Der von Arnold Maxwill herausgegebene Band beinhaltet Porträts von Literaten und Polemiken zur Kreativwirtschaft und Kulturpolitik im Ruhrgebiet, die Gerd Herholz in den letzten Jahren als Blogbeiträge veröffentlichte.
trailer: Herr Herholz, spukt es im Ruhrgebiet – oder wie kam es zum Titel?
Gerd Herholz: Der Titel verspottet vor allem den Event-Wahn im Literaturbetrieb. Als ehemaliger Leiter des Literaturbüros Ruhr war es mir wichtig, diese elende Verflachung zu reflektieren. Man kann leicht resignieren, wenn man sich nur noch an Zuschauerzahlen, Medienecho oder Controllern orientieren soll. „Gespenster“ sind für mich dabei insbesondere jene Figuren des Kulturbetriebs, der Kulturpolitik, die „Eventitis“ oder „Festivalitis“, also eine hohle Modernisierung von oben durchsetzen sollen und wollen.
Sie beschreiben eine Allianz aus Politik, Investoren und Kreativen, um das Ruhrgebiet zu gentrifizieren, Kapital anzulocken.
Was aber überhaupt nicht vorgesehen ist, das wäre eine Gentrifizierung, die viele demokratisch mitgestalten würden. Gegen die Verwandlung, Belebung einer Stadtlandschaft spricht nichts, wenn Bürgerinnen und Bürger Einfluss nehmen und sie nicht nur oktroyiert wird. Ich bewundere etwa Lukas Herrmann in Gelsenkirchens Bochumer Straße, die einmal Kulturkiez werden soll. Auch mit seiner kuratierten Buchhandlung Readymade beginnt ein zaghafter Wandel durch Engagement von unten, durch Menschen, die Kunst wirklich lieben und deshalb enorm ausstrahlen auf das, was im Stadtraum passiert.
Etablierte Kulturformate wie die Lit.Ruhr bezeichnen Sie dagegen als „Eventzirkus“. Was ist verkehrt an diesen Veranstaltungen?
Wenig, wenn sie in Balance zu anderen Formaten und Förderungen stünden. Zum Vergleich: Wir haben rund ums Literaturbüro allzu oft Kürzungsdebatten erlebt und mit fragilen Minimalhaushalten arbeiten müssen. Das Team um die Lit.Ruhrerhielt dagegen sofort eine Förderung von fünf Millionen Euro für drei Jahre. Andererseits musste letztes Jahr das privat initiierte Literaturhaus Herne Ruhr schließen. Warum wurde diese Einrichtung nicht zumindest mit hunderttausend Euro im Jahr gefördert und hätte so ihr spannendes Programm auf Dauer stemmen können? Stattdessen fördert man lieber ein Spektakel, das vor allem Schauspielern, Promis, Politikern die Bühne bereitet, statt experimentierfreudige Literatinnen aus aller Welt vorzustellen. Letztlich bleibt das Kopie der Lit.Cologne, die man in Köln eingekauft hat. Im Ruhrgebiet scheinen die großen Stiftungen nicht zu kapieren, dass hier die Kompetenz vorhanden wäre, um selbst mehr Eigenständiges von Format auf die Beine zu stellen.
Wie viel Infrastruktur gibt‘s eigentlich im regionalen Literaturbetrieb?
Zu wenig. Wir haben hier keinen großen Verlag mit bundesweiter Ausstrahlung. Ebenso fehlen hier im Vergleich zu Berlin oder München ein starkes Feuilleton oder ein Haussender, der mehr wäre als ein paar Stunden ‚Lokalzeit‘. Ein entscheidendes Manko, dass diese Schaufenster nach außen nicht existieren, um die Vielfalt hier präsentieren zu können. Damit fehlt zugleich eine daran gebundene intellektuelle Szene aus Autorinnen und Autoren, Kritikern und Lektoren.
Wie steht es um eine Alternative zum Marketing- und Glamourfaktor von Lit.Ruhr und Co.?
Da ist vieles aus dem Gleichgewicht geraten. Die neoliberale Orientierung auf Events, Publikumszahlen und Erlöse hat in den letzten Jahrzehnten an Einfluss gewonnen. Wir z.B. wurden als Veranstalter vor Jahren aufgefordert, Zielvereinbarungen zu unterzeichnen und zahlenmäßige Erfolge quasi im Vorfeld zu garantieren. Irgendwann wollte ich da nicht mehr mitmachen. Wir erlebten einen bewussten Sinnverzicht, insofern es weniger um Inhalte und umso mehr um den Promifaktor oder bloßen Content ging. Das meine ich, wenn ich von neoliberaler Abrichtung von Sprache und widerständiger Literaturförderung spreche. Mit dieser Tendenz werden jede komplexe Ästhetik und das Verständnis dafür eingeebnet. An Trumps Umwertung aller Werte und seinen abstrusen Sprachregelungen kann man sehen, wohin das führen soll. Auch bei uns könnten es Demagogen aus der AfD bald noch leichter haben, dieses Inhaltsvakuum durch völkische Sprache und sogenannte ‚deutsche‘ Kunst zu ersetzen.
Weil Neoliberalisierung und Rechtsruck sich begünstigen?
Ja, mittlerweile zeigt sich diese fatale Entwicklung auch in Kleinen Anfragen wie jener der CDU, die unbequeme demokratische Organisationen nicht mehr gefördert sehen will. Man sollte sich dagegen wappnen: mit einem wachen Ohr für korrumpierte Sprache, aber auch mit neuen Protestformen. Künstler und Kulturförderer dürfen nicht nur Abwehrkämpfe gegen immer neue Kürzungen führen, sondern müssen endlich ihre eigene Praxis offensiv reflektieren, Diskussionen anstoßen über den neoliberalen und bedrohlich faschistoiden Rahmen, in dem allein Kunstförderung noch gesehen werden soll. Wir sollten deutlich politischer agieren, um Freiräume für Bildung und Kultur zu sichern. Sogar „l‘art pour l‘art“ (sinngemäß: die Kunst um der Kunst willen, Anm. d. Red.) kommt ohne ein politisches Umfeld nicht aus, das ihr die Luft zum Atmen lässt.
Gerd Herholz: Gespenster GmbH (Gespräch mit Moderation) | Di 8.4. 19.30 Uhr | Literaturhaus Dortmund | Eintritt frei | 0231 33 04 84 97
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