Ein Besuch des Musiktheaters im Revier lohnt sich allein schon wegen der imposanten blauen Reliefs von Yves Klein, die die Wände der Foyers schmücken. Diesmal setzt sich die Kunst auf genauso beeindruckende Weise im Saal fort, schwimmt doch über die gesamte Bühnenbreite ein riesiger Goldfisch in einem Meer von Narzissen. Es soll nicht das einzige Bild bleiben, das uns von der Musical-Inszenierung im Kopf bleiben wird. Bühnenbildner Sam Madwar hat – in kongenialer Zusammenarbeit mit dem Kostümbildner Ulli Kremer – alles getan, um die opulenten Bilderwelten, die Tim Burton bei seiner Filmadaption des gleichnamigen Romans kreiert hatte, auch im Theater entstehen zu lassen. Bei der europäischen Erstaufführung von „Big Fish“ 2016 in München waren sie erstmals zu bestaunen – und nun hat sie der damalige Regisseur Andreas Gergen für seine Inszenierung am MiR mit nach Gelsenkirchen gebracht. Zusammen mit dem Hauptdarsteller Benjamin Oeser.
Oeser spielte die Rolle des Handelsvertreters Edward Bloom noch während seines Studiums: eine erstaunliche Leistung für einen Studenten – steht er doch fast ununterbrochen auf der Bühne und muss vom jungen bis zum alten Mann die Figur des verschroben-charmanten Südstaaten-Münchhausen füllen. Die Leistung nötigt auch diesmal wieder Respekt ab, obwohl man Benjamin Oeser den auf dem Sterbebett liegenden Vater dann doch nicht so ganz abnimmt. Aber als junger und alternder Vater ist Oeser grandios, auch weil er mit seinem Outfit und seinem staksigen Gang an die Komik einesJerry Lewiserinnert, was wunderbar mit der surrealen Geschichte korrespondiert.
Es beginnt mit jenem übergroßen Fisch, den Edward am Tage der Geburt seines Sohnes Will (etwas unscheinbar: Dennis Hupka) mit einem Trick gefangen haben will und der Begegnung mit einer Hexe, von der er erfährt, wie er einmal sterben wird. Später lernt Edward einen missverstandenen Riesen kennen, mit dem er Freundschaft schließt. Schließlich landet Edward in einem Zirkus, wo er seine Traumfrau erblickt, sie aber sofort wieder aus den Augen verliert. Der freakige Zirkusdirektor Amos, der ab und an zum Werwolf wird, verspricht Edward ihmpeu à peuihreIdentität zu verraten – wenn er ohne Bezahlung für ihn arbeitet. In dieser Zirkusszene, die Gerken wie eine Hommage an Federico Fellini inszeniert und mit einer echten Artistin (Birgit Mühlram, die auch verführerisch eine Meerjungfrau gibt) angereichert hat, zeigt sich seine außergewöhnliche und mutige Regiekunst: Ohne jemals den leisesten Hauch von Voyeurismus aufkommen zu lassen, lässt er den kleinwüchsigen Schauspieler Rüdiger Frank den Zirkusdirektor spielen, was dieser mit einer überbordernden Spiellust und einem die Bühne sprengenden Charisma tut.
Als Edward nach drei Jahren schließlich vor seiner Angebeteten steht, ist sie schon verlobt. Doch da sind ja noch ihre Lieblingsblumen, die Narzissen, mit denen er Sandra (überzeugend: Theresa Christahl) schließlich für sich gewinnt. Während sie sich langsam an die Spinnereien ihres Mannes gewöhnt, gehen sie Will zunehmend auf die Nerven. Schließlich kommt es auf Wills Hochzeit mit Josephine (liebreizend: Sina Jacka), als Edward seinen Sohn brüskiert, zum Zerwürfnis. Erst als Edward im Sterben liegt, kehrt Will zurück, versucht ein letztes Mal die Wahrheit hinter all den Flunkereien zu ergründen und stößt bei seinen Recherchen auf Jenny (Anke Sieloff, die genauso souverän auch die Hexe spielt), jene geheim gehaltene Liebe seines Vaters, mit der er vielleicht ein wahrhaftigeres Leben hätte führen können. Aber dann verfällt er mit seinem Schlusssong, der auch als Opening von Edward zu hören war, selbst der Faszination der Phantasie: „Sei der Held deiner eigenen Geschichten!“
Leider ist das die einzige Melodie, die im Ohr hängen bleibt und Andrew Lippa („Addams Family“) bleibt weiterhin den Beweis schuldig, dass seine gefällig zwischen Country, Funk, Swing und gefühlvollen Balladen angelegten Kompositionen mehr als Broadway-Routine sind. Zudem klingt das nur neunköpfige Orchester unter der Leitung von Heribert Feckler bisweilen etwas „breiig“: Da hat man selbst bei Amateuraufführungen von „Big Fish“ schon einen satteren Musical-Sound gehört. Auch Danny Costellos‘ Choreografie schöpft die sich bietenden Möglichkeiten nicht optimal aus, besticht lediglich durch eine hübsche Steppnummer bei „Rot, Weiss, Blau“. So werden die perspektivischen, geradezu 3D-mäßigen Projektionen von Sam Madwar, in denen auch schon mal Kühe durch die Luft fliegen und wir mit Edward und Will täuschend echt mit einem imaginierten Auto durch nächtliche Häuserschluchten fahren, zum Höhepunkt des viel beklatschten Abends.
„Big Fish“ | R: Andreas Gergen | 12., 13., 21., 25.4. & 1., 29.6. je 19.30 Uhr | Musiktheater im Revier Gelsenkirchen | www.musiktheater-im-revier.de
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