„Unglaublich!" Das Wort erklang Anfang der 90er immer wieder, als der in Süddeutschland aufgewachsene und in München lehrende Michael Riessler über den französischen Musiker Pierre Charial sprach. Mittlerweile gehört der zu den engen Vertrauten, wenn Riessler mal wieder ein großes Auftragswerk erfüllen darf. Dieser hat viele Verbündete in Frankreich gefunden, vielleicht weil sich dort das Schubladendenken nicht so manifestiert hat und Musik interdisziplinär gepflegt wird. Das trifft ganz bestimmt auf das charismatische Duo zu, das jetzt in Dortmund mit Drehorgel und Bassklarinette antritt.
Beide Musiker arbeiten im Bereich des Jazz und der Neuen Musik, beide bedienen aber auch ganz weltliche Bedürfnisse. Charial handelt mit gelochten Hits und Evergreens für Drehorgeln, Riessler schreibt künstlerische Filmmusiken, so zu „Heimat 3" von Edgar Reitz oder zum Stummfilm „Hamlet" mit Asta Nielsen. Aber Riessler bewegt sich durch die bunte Musikwelt wie ein Derwisch, und die dabei aufwirbelnden Werke und Improvisationen zeichnen sich durch gleichbleibend höchste Qualität aus. Er liebt die Theaterluft und den Tanz, und ganz allgemein die Musik. Und darüber kann er sehr gut nachdenken und auch reden.
Charial ist ein eher wortkarger Geselle. Aber manchmal holt er zu erhellenden Aussagen über seine Kunst aus. „Die Drehung der Kurbel ist eine musikalische Geste, sehr expressiv", sagt er zum Beispiel. Und ein liebevoller Biograf schrieb einmal: „Pierre Charial ist nicht nur der Pilot seiner Maschine, sondern auch ihr Poet." In größeren Projekten, als Orchesterspieler, gelingt es dem feinmotorisch begabten Spieler, durch die Drehgeschwindigkeit vorproduziertes Material in eine Komposition einfließen zu lassen. Jetzt im Duo nimmt er automatisch die Rolle des Dirigenten ein, denn er sieht die Töne in wahrstem Sinne auf sich zukommen.
Daran lässt sich als interessierter Zuschauer partizipieren: Wer auf die ellenlangen, von der Orgel verputzten Lochstreifen schauen kann, darf die Musik visuell an der Form der sichtbaren Lochung vorahnen. Die Karten geben in der richtigen Drehung den Groove vor, und manchmal wippt der Volksmusiker Charial wie Brian Auger hinter seinem Instrument, so rockig und dick flöten die Holzpfeifen ihren vorgelochten Sound. Charial spielt ein 42-töniges Instrument mit 156 Pfeifen und drei Registern. Es ist eine Sonderanfertigung des Drehorgelbauers André Odin. Die Orgel besticht auch optisch als imposante Holzmaschine.
Der Lochstreifen kennt keine Tempobeschränkung. Entsprechend rasant weht der Wind durch die verschiedenen Rohre. Und so ganz einflusslos auf das musikalische Geschehen bleibt der Orgelspieler nicht: Er gibt durch den Schwung das Tempo an, er kann verzögern, stoppen und sogar drängen. Dann schiebt er mit der Hand das Papier nach vorn. Die beiden bieten eine Show zwischen Maschine und Mensch: Die Besucher werden am Ende alle(s) lieben.
Michael Riessler & Pierre Charial | Sa 23.1. 20 Uhr | Domicil, Dortmund | www.domicil-dortmund.de
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