Was war das nicht für eine traurige Debatte? Als in den 90ern das Ende der Utopien ausgerufen wurde, döste auch die zeitgenössische Belletristik. Ein bisschen Pop, ein bisschen Warenfetisch. Aber ansonsten? Der Ennui einer ichbezogenen Generation, deren Prosa die Konflikte dieser Welt eher ignorierte. Während das Feuilleton scharf urteile: „Im Schatten des Lebens“, verortete Hubert Winkels die Schreiberlinge der frisch wiedervereinten Nation. Und Maxim Biller attestierte der Gegenwartsliteratur „soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel“.
Vorbei sind diese Zeiten. Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur hat seit Jahren wieder die Antennen ausgefahren und tummelt mitten am Puls der Zeit. Zwei der aktuell vielversprechendsten Exponenten dieser frischen Generation lasen beim 20. LesArt-Festival: Robert Prosser aus „Gemma Habibi“, schließlich die einstige Iuventa-Kapitänin Pia Klemp aus ihrem Roman „Lass uns mit den Toten tanzen“. Eines wird an diesem dreistündigen Doppel-Lektüreabend im Dortmunder Domicil aus den Gesprächen mit Moderator Matthias Bongard schnell klar: Beide AutorInnen haben die bundesrepublikanische Käseglocke früh verlassen und sich in jene Krisenherde begeben, die sie in ihren Büchern auf ihre je eigene Weise entblättern.
Pia Klemp stemmte sich gegen das Sterben im Mittelmeer, mit dem die EU so angenehm leben kann. Robert Prosser reiste nach Syrien. Einmal 2007, schließlich noch mal 2011. Im dem Jahr, als plötzlich die Diktaturen im Mittleren und Nahen Osten wie Dominosteine zusammenzuklappen schienen. Algerien, Ägypten und dann das Assad-Regime? „Damals wurde Mubarak in Ägypten gestürzt“, erinnert sich der damals erst 23-Jährige. „Das wurde dann in Syrien gespannt verfolgt.“ Die Augen der Menschen klebten an den Fernsehbildschirmen, Aufbruchsstimmung lag in der Luft.
Dass es bekanntlich anders verlief, schildert auch Prosser in „Gemma Habibi“, der irgendwie Flucht-, Reise, aber auch Liebesroman ist. Und gleich an drei Orten angesiedelt ist: Kurdistan, Wien, Ghana – und zudem von drei Menschen erzählt. „Ein Roman bietet die Möglichkeit zu zeigen, wie vielfältig und tief eine einzelne Person ist“, sagt Prosser. Alle drei Stränge führt der Österreicher in seinem Ich-Erzähler zusammen, ein Boxer, in dessen Wettkämpfe Prosser die LeserInnen mit einer selten rhythmischen und zugleich wuchtigen Sprache schleudert. „Links, links und rechts, Jab, Jab und Punch, im Takt sag ich mir vor: Ich schick ihm Schock in den Kopf. Jab und Punch, Hook. Und: Er wird nur Schwarz vor den Augen haben.“ Stakkato-Sätze, die der Rap-Fan, im Domicil zu performen weiß. Prosser liest seine Passagen nicht, er trägt sie auswendig vor.
Anders verhält es sich bei der Menschenrechts-Aktivistin Pia Klemp. Als Kapitänin erlebte sie auf dem Mittelmeer Verzweiflung, Elend und Tot. Bis sie schließlich von Rom verklagt wurde. Damit endete die Iuventa-Mission. Der Vorwurf: Menschenschlepperei. Eine zwanzigjährige Haftstrafe steht im Raum. Die deutschen Behörden würden Klemp in diesem Fall ausliefern. Genug Grauen hatte sie gesehen, genug Wut verspürt. „Ich musste das einfach schreiben, bevor mir der Kopf platz“, erzählt sie.
„Lass uns mit den Toten tanzen“ knüpft an die Tradition der autofiktiven, linken Romane von Nanni Balestrini oder Jörg Fauser an. Aktivismus und Inspiration verschwimmen. So erzählt sie von den Spannungen an Bord, aber auch von der „Crew-Liebe“, die alle zusammenschweißt: „Ein bunter Haufen von Hippies, Punks, Weltverbesserern und Kämpfern, mit ihren merkwürdigen Frisuren und Tattoos, wuselt über das Schiff. Mit Schweißtropfen werden junge Freundschaften besiegelt, das ist die Blutsbrüderschafft der Arbeiterklasse.“ Es ist ein Akt der Solidarischen, die die Zustände nicht akzeptieren. So wie Pia Klemp: „Unser Jetzt-Zustand ist so widerwärtig, dass ich nicht anders kann, als aufzubegehren“, sagt sie. „Es ist im Sinne der EU, dass die Menschen im Mittelmeer ertrinken und verschleppt werden.“ Nun schreibt die Autorin gegen diese Verbrechen.
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