Noch einmal Kind sein. Das war einmal eine Vorstellung von Glück und Unbeschwertheit, von Freiheit und Lebensintensität. Heute ist Kindheit nicht mehr so unschuldig mit Freude verbunden, heute provoziert sie Gedanken an Bedrohung durch Armut, Verwahrlosung, Gewalt und Missbrauch. Kinder werden als Objekte für Kommerzialisierung betrachtet, je jünger je lieber, und zugleich gibt es Überlegungen, das Alter für eine Strafverfolgung zu senken. Kindheit wird von Angst überschattet. Ein zentrales Thema in Boris Charmatz' Tanz-Produktion „Enfant“, die zu den überragenden Produktionen im Programm der diesjährigen Ruhrtriennale zählt. Freilich handelt es sich um einen dunklen Stern, den der Künstlerische Leiter Heiner Goebbels in den Reigen einer Triennale aufnahm, die mit Produktionen von Anne Teresa De Keersmaeker, Mathilde Monnier, Luc Ferrari und Laurent Chétouane ihren Schwerpunkt stärker als jemals zuvor im Tanzbereich setzt.
Boris Charmatz weiß um die Wirkung von Kindern auf der Bühne. Kinder agieren so authentisch, dass sie in jeder Inszenierung sofort die ganze Aufmerksamkeit des Publikums auf sich ziehen und die theatrale Wirkung der Erwachsenen sprengen. Deshalb lässt der Franzose sie in seiner Choreographie die meiste Zeit auch gar nichts tun. Nach einem unheimlichen Maschinenballett zu Beginn, sieht man die Kinder wie schlafend liegen. Dafür hantieren die erwachsenen Tänzer mit den Kinderkörpern. Kalt, ruppig und in ihrer Gleichgültigkeit fast brutal wirken die Aktionen der Erwachsenen. Und sofort sind sie da, die Assoziationen von Missbrauch und Demütigung. Die Ohnmacht, in der Kinder einer Erwachsenenwelt ausgeliefert sind, wird spürbar.
Aber das alles spielt sich in unseren Köpfen ab, es ist „eine Projektion der Erwachsenen“, wie Charmatz treffend behauptet. Sein eigentliches Sujet sind denn auch nicht die Kinder, sondern unser Blick auf sie, das Mitleid und die Angst, die wir um das Kind in uns haben und dem wir in Gestalt der Kinder auf der Bühne begegnen. Damit hat er einen Nerv unserer Zeit getroffen, die Uraufführung bescherte dem Theaterfestival in Avignon 2011 seinen Höhepunkt. Konsequent geht der 39jährige Franzose seinen Weg. Dass er stets den Blick thematisiert, mit dem wir auf die Welt schauen, deutete sich schon an, als er 2009 die Künstlerische Leitung des Centre choréographique national de Renne et de Bretagne übernahm und das Haus zu einem Museum für Tanz erklärte.
Charmatz betrachtet die Aktionen auf der Bühne als eine Fortsetzung der Bildenden Kunst mit den Mitteln des Tanzes. Er spielt mit den Erwartungen seines Publikums, aber er nimmt sein Publikum dabei auch ernst, mutet ihm eine emotionale Achterbahnfahrt im Verlaufe der 75 Minuten zu, die „Entfant“ benötigt, um uns ein Schauspiel vor Augen zu führen, das sich in der Erinnerung einschreibt. Wie sehen wir die Kinder, inwieweit stülpen wir ihnen unsere Wünsche, Träume und Ängste über? Das sind Fragen, zu denen eine Gesellschaft Antworten finden muss, wenn sie sich selbst begegnen will. Die Bilder, die wir vom Kindsein haben, werden von Boris Charmatz hart und unsentimental seziert. „Politisch“ will er seine Inszenierungen aber nicht verstanden wissen. Seine Rolle ist die des „blinden Künstlers“, wie er sagt, der seine Arbeit „anbietet, ohne darüber zu spekulieren, was sie bewirkt“. Klingt fast unschuldig, dass „Entfant“ jedoch ein komplexes Projekt ist, das seinem Publikum ins Herz zu schneiden vermag, davon kann man sich am 18. August (19 Uhr) und am 19. August (15 Uhr) in der Jahrhunderthalle in Bochum überzeugen.
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