Auch Tragik lässt sich steigern. Je größer das Unglück der anderen, umso lukrativer die Berichterstattung, denn Katastrophen können sich unserer Aufmerksamkeit sicher sein. Aber was ist mit den Betroffenen, wie leben sie weiter, wenn draußen in der Welt niemand mehr an ihrem Leid interessiert ist, weil es nach ranziger Trauer schmeckt? Und Trauer ist das Thema von „Marketplace 76“, der neuen Produktion von Jan Lauwers, die er für die Needcompany entwickelte und mit den drei Komponisten Hans Petter Dahl, Maarten Seghers und Rombout Willems als musikalisches Szenario präsentiert. Die Jahrhunderthalle in Bochum ist ein idealer Ort, um das wuchtige Drama im Rahmen der RuhrTriennale aufzuführen.
Trauer äußert sich buchstäblich in vielen Stimmen. Ein verheerender Unfall hat mehrere Bewohner eines Dorfes in den Tod gerissen. Die Ereignisse verändern die Gemeinschaft und sie beeinflussen den Lauf der Dinge in jedem einzelnen Leben. Jan Lauwers lässt sie alle erzählen, Vielstimmigkeit ist Teil der Struktur, mit der der Belgier arbeitet, weil es für ihn Themen gibt, die sich mit einer Stimme nicht mitteilen lassen. Die Praxis der Anmaßung, mit der in den Massenmedien unserer Tage jedes Geschehen in ein paar Sätzen zubereitet und nahtlos in die Chronik der Ereignisse eingereiht wird, torpediert Lauwers mit seiner eigenwilligen Ästhetik. Trauer ist hier keine Erstarrung, sondern ein höchst lebendiger Prozess. Alles ist in Bewegung, die Hinterbliebenen erzählen nicht alleine, sie reflektieren das Geschehen und kommentieren ihre Gefühle. Positionen wechseln, noch während sie entwickelt werden. Episches Theater entfaltet sich mit einer konsequenten Vitalität, wie sie sich ein Bertolt Brecht nicht hätte träumen lassen. Aber Lauwers schielt gar nicht erst auf Theatertraditionen, seine Ästhetik trägt die unverwechselbaren Züge ihrer Produktionsprozesse.
Dazu gehört das breite Spektrum der darstellenden Künste, neben dem Schauspiel und dem Tanz erfüllt die Musik die Rolle des emotionalen Kraftwerks, und dass die Bühnenaktionen letztlich einen Performance-Charakter annehmen, ist da nur folgerichtig. Lauwers und das Ensemble der Needcompany bauten nie auf tradierte Darstellungsformen, seit Mitte der 80er Jahre stellt man sich mit jeder neuen Produktion die Aufgabe, das Theater neu zu erfinden. Nachmodernes Theater, das nicht mehr auf bekannte Stoffe setzt, sondern sich seine Sujets selbst entwirft. Und so packt Lauwers immer wieder der Ehrgeiz, die Grenze zwischen Bühne und Publikum zu verändern. Jeder Zuschauer ist gefordert, beständig neue Perspektiven auf das Geschehen zu entwickeln. Auch das, was auf den ersten Blick provokant wirkt, will empathisch nachempfunden werden. Die coolen Kostümentwürfe, mit denen die Needcompany arbeitet, liefern durchaus kein Angebot für aufdringliche Gefühligkeit. Gleichwohl dringt dieses fulminante Spektakel um das Schicksal der dörflichen Gemeinschaft tief in die Fragen ein, was uns Liebe, Freundschaft und Glück bedeuten und welch sprudelnde Vitalität sich dort eröffnet, wo es gelingt, einen Blick hinter die geregelten Lebensmuster der Wohlstandsgesellschaft zu werfen.
„Marketplace 76“ I 7./8./13./14./15.9. 19.30 Uhr I Jahrhunderthalle Bochum
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