Mit ihrer Britten-„Trilogie der Außenseiter“ hat Elisabeth Stöppler am Gelsenkirchener Musiktheater zwischen 2009 und 2011 Furore gemacht und gleich mehrere Preise abgeräumt. Nun bringt sie den nächsten Sonderling auf die Revier-Bühne, den Ritter von der traurigen Gestalt „Don Quichotte“. Der Franzose Jules Massenet komponierte 1910 eine „heroische Komödie“ in fünf Akten für ihn.
Sein Schwert hat Regisseurin Stöppler gegen einen Geigenbogen vertauscht. Ihr Quichotte ist Cellist, ein liebenswert kauziger Künstler und Musiklehrer, in dessen Haus sich anfangs Scharen von Schülern tummeln. Es geht im Wortsinn rund in seinem Haus. Stöppler nutzt die Drehbühne ausgiebig – nicht etwa, weil sonst nicht genug los wäre. Im Gegenteil ist der Chor so sehr in Aktion, dass es anfangs schon an Reizüberflutung grenzt.
Bühnenbildner Piero Vincinguerra hat dem Musiklehrer eine ausgeklügelte Wohnung auf drei Etagen mit einem halben Dutzend Räumen gebaut, die sich mit Solisten und großem Chor wirkungsvoll bespielen lässt. Mit dem Gewusel aber ist es bald vorbei. Don Quichotte ist alt geworden und sieht dem Ende seines Lebens entgegen. Das Haus leert sich zusehends in den letzten beiden Akten – bis nur noch das Sterbebett auf der Bühne steht.
Bis dahin aber verliebt sich der Alte noch einmal unsterblich – in seine Putzfrau Dulcinée. Als sie ihn abweist, gibt ihm das den Rest. Und noch einmal füllt sich das Haus des Alten – diesmal mit Erinnerungen und illustren Persönlichkeit von Ché Guevara bis Mutter Theresa. Stöppler gelingt in ihrer völlig neu erzählten Handlung eine gute Mischung aus Witz und Tragik. Sie entwirft eine rückblickende Traumreise in das Leben Don Quichottes. In einigen Details erschließt sich nicht alles direkt, im Großen aber ist das Konzept schlüssig.
Und auf die Ausstrahlung ihrer Solisten kann Stöppler vertrauen. Kryzsztof Borysiewicz singt die anspruchsvolle Titelpartie mit schönem vollem Basstimbre und einem amüsant gestelzten Französisch. Sein Don Quichotte ist ein liebenswerter Alter, dessen Schicksal anrührt. Bariton Joachim Maaß gibt den treuen Sancho Pansa – einen sympathischen Orchestermusiker mit Draht-Esel und Fahrradhelm. Almuth Herbst schließlich gelingt der Wechsel zwischen bodenständiger Putzfrau in Jeans und feurigem Vamp, der in roter Robe aus dem Kleiderschrank steigt, mit viel Witz und Temperament. Komponist Massenet entwarf eine ungewöhnliche Stimmkonstellation, in der Tenöre nur kleine Nebenpartien singen, der Chor dafür ein hohes Gewicht bekommt.
In seiner schillernden spätromantischen Partitur mit spanisch-folkloristischen Einsprengseln legte er ein bemerkenswertes Tempo vor. In nur gut zwei Stunden gehen alle fünf Akte über die Bühne. Der junge finnische Kapellmeister Valtteri Rauhalammi sorgt dafür, dass sie niemals am Hörer vorbeirauscht. Der Gelsenkirchener Don Quichotte ist eine durch und durch anrührende Produktion, die sich an den nötigen Stellen auch Ruhe gönnt.
Don Quichotte | So 12.1. 18 Uhr | Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen | 0209 409 72 00
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