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Regisseurin Sophie Fiennes
Foto: ML

„Es ist eine monochrome Welt“

27. März 2012

Regisseurin Sophie Fiennes über „Over Your Cities Grass Will Grow“, die Arbeit mit Anselm Kiefer und die Vorzüge von Kinofilmen – Gespräch zum Film 10/11

Der erste Film mit und über den großen deutschen Künstler Anselm Kiefer lässt Kritiker schwärmen. Bemerkenswert ist dabei die Sensibilität, die „Over your Cities Grass Will Grow“ dem Künstler und seinem Schaffen entgegenbringt. So ist der Dokumentarfilm der englischen Regisseurin Sophie Fiennes vor allem auch ein Film über „La Ribaute“, das 35 Hektar große Gelände einer ehemaligen Seidenfabrik im französischen Barjac, zwischen dessen Hügeln Kiefer einen ganz eigenen Kosmos aus Kunst und Natur erschaffen hat. Und schließlich ist „Over your Cities Grass Will Grow“ auch als Gegenentwurf zu unserem heutigen Umgang mit Medien angelegt.

trailer: Frau Fiennes, Anselm Kiefer gilt als zurückhaltend, vor allem gegenüber Medien. Vor Ihnen hat er bereits einige Projekte und Filmemacher abgewiesen …
Sophie Fiennes:
Ja, er erhielt viele Anfragen und Vorschläge. Bei unserem ersten Treffen sagte er: „Dauernd kommen Menschen zu mir, um Filme zu drehen. Manchmal lasse ich sie anfangen. Doch dann sehe ich, was sie tun, und es gefällt mir nicht, und ich muss es beenden.“

Was führte also zu dem Kontakt und der Zusammenarbeit mit Ihnen?
Er hat mich gefragt! Ich denke, es war eine sehr spontane Anfrage. Ich hatte ihn zuvor ein paarmal in London getroffen. Und vielleicht fühlte er, dass ich jemand war, der ihn irgendwie versteht, und dass unser Empfinden für Ästhetik auf einer Wellenlänge liegt. Anselm und sein Galerist sagten zur mit: Komm nach Barjac und sieh’s dir an. Vor Ort erwachte sofort die Filmemacherin in mir und sah die Herausforderung. Ich erklärte Anselm: Wir müssen den Film als Kinofilm anlegen, nicht als TV-Film. Denn Fernsehen würde niemals Ästhetik über Information stellen. Kino hingegen kann ein Erlebnis sein, es kann bei seinen Zuschauern etwas bewirken und auslösen. Das liebe ich am Kino so sehr.

Hatten Sie bereits zu Beginn ein Konzept im Kopf?
Nein, das entwickelte sich im Laufe der Dreharbeiten. Bis zur Postproduktion weiß man nie genau, wie der Film aussieht. Das macht es spannend, es ist wie ein Experiment. Viele Entscheidungen ergeben sich allein durch das Material, das man am Ende vorliegen hat. Und ich war wirklich gespannt, denn ich wollte keine Kunst-Dokumentation im eigentlichen Sinne machen. Ich wollte einen ambitionierten Kinofilm machen, auch als Gegenentwurf zu Youtube und zu dem Konzept von kompakten MPEG-Dateien. Das ist kein Filmemachen mehr, das sind nur noch Inhalte. Daher war es für mich auch sehr wichtig, einen Teil des Films analog zu drehen. Filmmaterial spricht auf Licht ganz anders an.

Haben Sie während des Drehs auch mit Anselm Kiefer interagiert oder ausschließlich beobachtet?
Natürlich habe ich auch viel interagiert. Aber ich wollte nicht, dass meine Präsenz im Film zu spüren ist, denn es ist kein Film über mich. Und Beobachtung ist ja nichts Passives, sondern eine sehr subjektive Angelegenheit. Jede einzelne Einstellung bedeutet schon eine Auswahl. Durch Beobachtung erhält man sehr interessante Einsichten, manchmal reichen dazu schon die kleinsten Dinge: die Art, auf die Anselm Materialien arrangiert, oder wie er mit Asche und Blei arbeitet. Diese Dinge erzählen so viel, das man nicht in Worten ausdrücken kann. Und dabei stellte Anselm sich anfangs vor, den Film nur über Barjac zu drehen, sodass er selbst gar nicht vorkommen würde. Ich musste ihn dazu überreden, sich filmen zu lassen! Danach war unsere Arbeit allerdings sehr gemeinschaftlich. Es gehörte eine Menge Vertrauen dazu.

Hat Anselm Kiefer den Film vor der Veröffentlichung angesehen?
Ja, und es gab noch ein paar Dinge, über die er nicht so glücklich war. Er mochte zum Beispiel ein spezielles Musikstück nicht. Auch gab es einige Einstellungen, die seine Werke in einem sehr frühen Stadium zeigten – was für das Publikum nicht unbedingt ersichtlich ist, und er wollte nicht, dass seine unfertigen Werke aus dem Kontext gerissen werden. Ich habe seine Entscheidungen respektiert.

Wie viel Zeit haben Sie in Barjac verbracht, um Filmmaterial zu sammeln?
Innerhalb eines Jahres war ich viermal dort; im Durchschnitt blieb ich jeweils zwei bis drei Wochen.

Haben Sie während dieser Zeit in „La Ribaute“ gelebt?
Ich habe dort in einem kleinen Gästehaus gewohnt, was wirklich toll war. Denn so konnte ich diese hermetische Welt selbst erleben. Als ich einmal drei Wochen lang vor Ort war, habe ich Barjac kaum verlassen, ging also nie in die eigentliche „Welt“ hinaus. Dadurch arbeitete ich wirklich hart und filmte jeden Tag. Anselm selbst arbeitet übrigens auch sehr viel und sehr hart, und so war er immer sehr besorgt, ob auch ich genug für das Projekt tun würde! (lacht)

Durch den vielen Beton und all die Grau-, Braun- und Schwarztöne wirkt „La Ribaute“ in gewisser Weise beklemmend. Entspricht das auch Ihren eigenen Eindrücken vor Ort?
Das ist seine Welt – eine sehr monochrome Welt. Er empfindet Farbe als störend und abstoßend. Im Film gibt es eine Szene, die ich ganz bewusst nicht herausgenommen habe. Er greift zu einem Pinsel mit gelbem Griff und sagt: „Dieser Pinsel ist gelb! Das kann ich nicht ausstehen.“ Und wenn ich in einem blauen Pullover erschien, war seine Reaktion: „Was ist das für eine Farbe?“ Dennoch fühlt es sich dort nicht beklemmend an. Das ist das Beeindruckende und Merkwürdige an seiner Kunst. Was zunächst bedrückend erscheint, kann am Ende doch sehr erhaben sein. Wenn Menschen zum ersten Mal die Tunnel betreten, sagen sie: „Oh mein Gott, es sieht aus wie Auschwitz!“ Wenn man jedoch etwas länger bleibt, kommen ganz andere Gedanken und Vorstellungen auf. Es mag zwar Tunnel und Höhlen geben, doch finden sich auch Orte des Schutzes, der Reflexion. In diesem Sinne ist es nicht einfach bedrückend, sondern sehr spannend.

Der Titel des Films spricht auf die Kräfte der Natur an. Welche Rolle spielt die Natur für Kiefers Arbeit?
Eine sehr große. Sein Werk kam auf sehr organische, instinktive Weise zustande. Er setzte sich nicht hin und sagte: Jetzt erschaffe ich diese wundervolle Landschaft! Er begann langsam; baute einen Tunnel hier, ein Gebäude oder einen Keller dort. Für Kiefer bedeutete das Befreiung und Abenteuer. Er wollte dem Druck zuwiderlaufen, Wert-Objekte auf den Kunstmarkt bringen zu müssen, um sie zu verkaufen. Auch ist für Anselm das Schaffen durch Zerstörung sehr spannend, und die Natur ist ihrerseits eine Art chaotische Kraft, die ständig zerstört und neuerschafft. Er liebt es, mit der Natur zu arbeiten und zu sehen, was sie aus seiner Kunst macht. Inzwischen wohnt er in Paris, und es ist wohl das erste Mal, dass er in einer urbanen Umgebung lebt.

2008 hat Anselm Kiefer Barjac verlassen, nachdem er zwölf Jahre lang viel Energie in das Gesamtkunstwert „La Ribaute“ gesteckt hatte. Bedauern Sie diese Entwicklung?
Ich wusste immer, dass er gehen würde. Und ich mochte die Vorstellung, denn das verlieh meinem Film eine narrative Wendung. Aber es bleibt eine sehr interessante Frage: Wie ist es möglich, etwas Derartiges zu schaffen und es dann zurückzulassen?

Kritiker loben Ihren Film für seine einfühlsame Annäherung an den Künstler und sein Werk. Wie gelang es Ihnen, die Atmosphäre des Ortes und die Persönlichkeit Kiefers einzufangen?
Ich habe zum einen versucht, sehr sensibel gegenüber dem Material zu sein und dem, was es enthüllt. Ich habe den Film bewusst auf dem Land bearbeitet, an einem sehr ruhigen Ort. In den ersten 15 Minuten meines Films kommen keine Menschen vor. Dadurch beginnt der Zuschauer, sich nach menschlicher Anwesenheit zu sehnen, und erlebt, wie sehr wir andere Menschen um uns herum brauchen. Für Anselms Werk hingegen sind Menschen nicht wichtig, sie stellen für ihn einfach nicht das Zentrum des Universums dar. Das soll auch der Film reflektieren, das Publikum fühlt sich dieser fremden Welt ausgesetzt. Doch man muss nichts über Kiefer wissen und kein Kunstexperte sein, um sich den Film anzusehen. Man muss lediglich einmal in seinem Leben einen Kuchen aus Matsch geformt haben. Oder am Strand gesessen haben, um zu sehen, wie das Wasser den Sand hinauszieht und seine Form verändert. Das ist die einzige Erfahrung, die man gemacht haben muss, um den Film zu verstehen.

Interview: Maren Lupberger

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