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Muss alleine mit den Kindern zurechtkommen: Patricia Arquette in „Boyhood“.
Foto: Presse

„Es war mir egal, um was es in dem Film geht“

28. Mai 2014

Patricia Arquette über „Boyhood“ und Veränderungen in der Filmindustrie – Roter Teppich 06/14

Die 1968 in Chicago geborene Patricia Arquette entstammt einer erfolgreichen Schauspielerfamilie. Der Durchbruch gelang ihr 1993 in „True Romance“, für den Quentin Tarantino das Drehbuch geschrieben hatte. Neben Auftritten in Filmen wie „Ed Wood“, „Lost Highway“ oder „Fast Food Nation“ war sie auch im Fernsehen mit der Serie „Medium“ erfolgreich. „Boyhood“, der nun in die Kinos kommt, wurde über einen Zeitraum von zwölf Jahren gedreht und schildert das Aufwachsen ihres von Ellar Coltrane gespielten Filmsohnes Mason.

trailer: Miss Arquette, wie haben Sie den ungewöhnlichen Drehprozess von „Boyhood“ persönlich empfunden?
Patricia Arquette
: Es war all die Zeit sehr spannend, aufregend und einfach unglaublich, ein Teil des Ganzen zu sein! Richtig cool. Wir sind immer sehr gut miteinander ausgekommen, es war eine tolle Zusammenarbeit, richtig warmherzig, und fühlte sich wie bei einer echten Familie an. Es war auch stets eine sehr intime Atmosphäre am Set. Das Schwierigste für mich war jetzt die Zeit, als ich wusste, dass der Film ins Kino kommen wird. Ich wollte eigentlich gar nicht, dass die Leute den Film nun ansehen, weil mir ihre Meinung dazu völlig egal war. Ich wollte nicht, dass sie das alles sehen – das war unser Ding! (lacht) Ich hatte auch Sorge, dass die Zuschauer ihn nicht verstehen. Der Film ist ein bisschen wie private Heimkinoaufnahmen. Ich versuchte, ihn zu schützen.

Fühlte es sich von Anfang an so familiär an?
Ja, jeder schien den anderen zu kennen. Wie wenn man der gleichen Sippe angehört. Ich traf Richard Linklater das erste Mal auf einer Party. Kurz danach hat er mich angerufen und mich gefragt: „Was wirst Du in den nächsten zwölf Jahren machen?“ Und dann erzählte er mir, dass er in den nächsten zwölf Jahren jedes Jahr eine Woche lang an einem Film drehen wollte. Als er sagte, er sähe mich gerne in einer der Hauptrollen, sagte ich sofort zu. Danach fiel mir ein, dass ich noch gar nicht gefragt hatte, um was es in dem Film eigentlich ginge und was für eine Figur ich spielen sollte. Aber das war mir eigentlich auch egal. Mir gefiel allein die Idee so unglaublich gut, und ich wollte unbedingt mit Rick zusammenarbeiten. Es gibt keinen anderen amerikanischen Regisseur, der in der Lage ist, solch einen Film zu drehen – oder die „Sunrise“-Trilogie oder „Waking Life“, einen philosophischen Zeichentrickfilm! Und er war am Set immer so gelassen, der perfekte Anführer und der perfekte Vater.

Waren die Geschichte und die Entwicklung der Charaktere schon vor zwölf Jahren festgelegt?

Das Gerüst und die grundsätzlichen Überlegungen schon. Wir wussten, dass es eine Hochzeit, eine Scheidung, eine weitere Hochzeit, Alkoholprobleme und die Arbeit meiner Figur als Universitätsprofessorin geben würde. Aber wir trafen uns jedes Jahr einige Wochen vor dem Beginn der Drehzeit und besprachen, was in unserem Leben passiert war. Wir schauten, an welchem Punkt in ihrem Leben die Kinder gerade waren, mit welchen Dingen sie sich beschäftigten. Jeder brachte seine eigene Sicht der Dinge in diesen Treffen zur Sprache. Und dann ließ Rick das Ganze ins Drehbuch einfließen. Was mir aber besonders gut an dem Film gefällt, sind die Lücken, die er zwischen den Ereignissen lässt.

Gab es jedes Jahr ein besonderes Ritual, wenn Sie sich alle wieder am Set trafen?

Nein, aber es war trotzdem immer sehr familiär. Wir kamen einfach spielend miteinander zurecht. Jeder brachte sich irgendwie ein und jeder hörte auf das, was der andere zu sagen hatte. Viel davon ist Rick zu verdanken, der eine klare Vorstellung von allem hatte, und trotzdem jeden daran teilhaben ließ. Ein anderer Filmemacher hätte sicherlich auch nicht das gleiche Vertrauen wie er in die reine Geschichte gehabt, die ohne irgendwelche Mätzchen auskommt.

Haben Sie selbst in diesen zwölf Jahren Veränderungen in der Gesellschaft festgestellt, vielleicht in Bezug auf die Patchwork-Familiensituation?

Ich glaube schon, aber ich habe mir dazu nicht viele Gedanken gemacht. Früher blieben die Frauen bei den Familien, komme was da wolle, weil sie keine andere Wahl hatten, als Mutter zu sein. Und sie brauchten den Vater, der die Miete bezahlte. Deswegen blieben sie zu Hause und zogen die Kinder groß. Nun gibt es nur noch Super-Frauen, die einfach alles machen können. Aber mehr noch als das habe ich während der Drehzeit festgestellt, wie sehr sich die Filmindustrie verändert hat.

Was meinen Sie damit im Besonderen?

Das Kabelfernsehen ist in dieser Zeit geradezu explodiert. Heutzutage haben wir mehr als 300 verschiedene Fernsehkanäle. Und viele Banker sind zu wichtigen Personen in der Filmindustrie geworden. Und mit ihnen ist der Castingprozess zu einer Mischung aus Papierkram und Algorithmen geworden. Unter diesen Umständen hätte Vivien Leigh heutzutage niemals die Rolle der Scarlett O’Hara in „Vom Winde verweht“ bekommen, denn sie war damals kein großer Kassenstar und noch dazu noch nicht einmal Amerikanerin. Sie zu besetzen war eine mutige Entscheidung. Heutzutage ist Casting ein verwässerter und langweiliger Prozess geworden. Bei den Kabelfernsehsendern wollen sie wirklich billig zu produzierende Inhalte, und Filme drehen sie für 220 Millionen Dollar – dazwischen gibt es nichts mehr.

Könnten Sie sich vorstellen, Masons Jahre als Erwachsener in den nächsten zehn oder zwölf Jahren ebenfalls zu verfilmen?

Das würde ich unheimlich gerne tun, wenn auch Rick dabei ist! Aber er muss nun wahrscheinlich erstmal die Geburt dieses Babys hinter sich bringen, mit dem er für so lange schwanger gegangen ist (lacht). „Boyhood“ ist ein ungewöhnlicher Film. Ohne die Hilfe der Presse weiß ich nicht, wie erfolgreich er laufen wird. Und davon hängen die Möglichkeiten ab, was danach kommen kann.

Während der langen Drehzeit von „Boyhood“ waren Sie auch in der Fernsehserie „Medium“ sehr erfolgreich. Wie passen diese beiden Welten für Sie zusammen?

Das war auch eine jahrelange Zusammenarbeit, die mir viel Freude bereitet hat! „Medium“ wurde sieben Jahre lang gedreht. Bei beiden Projekten war ich mit Herz und Seele dabei, fühlte mich von den anderen unterstützt und stand ihnen persönlich nahe. Aber es war auch sehr wichtig für mich, dass ich das „Medium“-Set einmal im Jahr verlassen konnte, um an „Boyhood“ zu arbeiten. Es war für mich als Schauspielerin wichtig, eine Auszeit von meiner Figur zu nehmen und in eine andere Rolle zu schlüpfen und mit einer anderen Gruppe Leute zu arbeiten.

Wenn Sie sich nun „Boyhood“ anschauen, denken Sie dann an Ereignisse aus ihrem Privatleben, die sich im gleichen Jahr zugetragen haben?

Ja, ich staune über seltsame Frisuren oder denke, ach ja, das wurde in dem Jahr gedreht, in dem ich mich selbst scheiden ließ… Aber ich wollte auf der Leinwand älter werden, das wollten wir alle. Natürlich gibt es auch eine Seite an mir, die das nicht so toll findet. Denn das erfordert auch einen gewissen Mut. Aber ich liebe das, ich schaue mir auch gerne Zeitrafferaufnahmen von Blumen an, auf denen man sieht, wie sich die Knospe entfaltet und die Pflanze schließlich stirbt, wenn die Blütenblätter abfallen.

Was haben Sie persönlich bei diesem Projekt gelernt?

Das Meiste dabei habe ich sicherlich von Rick gelernt, durch seine Art, wie er die Menschen durch diesen Prozess führte. Mir wurde klar, mit welchen Scheuklappen man häufig in Bezug auf andere durchs Leben geht. Olivia war so erschlagen, weil Ethan Hawkes Figur sie verraten und mit den Kindern im Stich gelassen hatte, dass sie gar nicht mehr erkennen konnte, was für ein toller Vater er ist. Sie erkannte einfach nicht, wie wichtig und unglaublich auch das war, was er der Familie zu geben hatte. Ich glaube, diese Scheuklappen hatte ich in meinem eigenen Leben auch. Der Film hat mir gezeigt, wie begrenzt meine Sicht der Dinge war, und er hat mich darin angespornt, anderen gegenüber offener zu sein.

Interview: Frank Brenner

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