Es ist ein Déjà-vu der besonderen Art: So, wie diese gewaltigen, mechanisch klimpernden Augen aus den Kulissen ins Publikum starren, bringen sie prompt die Erinnerung an eine überaus ungewöhnliche Produktion aus dem vergangenen Jahr zurück, die Steampunk-Oper „Klein Zaches, genannt Zinnober“ der Rockband Coppelius. Sie hat dem Gelsenkirchener Musiktheater ein ganz neues Publikum erschlossen: die modevernarrten Romantiker unserer Zeit in Reifrock und Zylinder von anno dazumal. Ihnen dürfte die neue Inszenierung der Oper, die schon 135 Jahre vor Coppelius die phantastische Welt der Erzählungen E.T.A. Hoffmanns musikalisch erschloss, besonders gefallen: „Hoffmanns Erzählungen“ von Jacques Offenbach.
Der Niederländer Michiel Dijkema hat sie als phantastisches, farbenprächtig ausgestattetes Gespensterstück auf die Gelsenkirchener Bühne gebracht. Auch das Bühnenbild, inklusive der Riesenaugen, stammt vom Regisseur. Die spektakulären, historisierenden Kostüme, inklusive der Riesenzylinder der Studenten im Prolog, gehen hingegen auf das Konto von Julia Reindell. Zusammen gelingt ihnen ein Fest fürs Zuschauerauge. Wer sich als rockaffiner Steampunk auf das Original einlässt, begegnet so einigen Figuren wieder: Lindorf etwa, Hoffmanns sinistrem Gegenspieler, der unter anderen auch als Coppelius auftritt, einem unheimlichem Wesen in immer neuen, mysteriösen Gewändern und gesungen von Urban Malmberg mit dramatisch-kernigem Bariton. Klein Zaches, der Giftzwerg, bekommt auch einen Auftritt, wenngleich nur indirekt. Immerhin widmet Hoffmann dem „Kleinzack“ eine seiner zentralen Arien. Gesungen wird jener Hoffmann vom Schweden Joachim Bäckström, einem echten Glücksgriff mit schönem leuchtenden Tenor.
Überhaupt kann die musikalische Seite mit der visuellen absolut mithalten. Der junge finnische Kapellmeister Valtteri Rauhalammi, der nach fünf Jahren in Gelsenkirchen nun nach Hannover wechselt, hat die ungemein abwechslungsreiche Partitur mit viel Liebe zum Detail ausgestaltet. Bei den Damen hat Koloratursopranistin Dongmin Lee die effektvollste Partie als seelenloser, aber ungemein betörender Gesangsautomat Olympia, den sie mit makelloser Stimmakrobatik und viel Humor verkörpert. Solen Mainguené gibt eine kränklich-fragile, der Welt enthobene Antonia mit mystischer Aura und der seltenen Fähigkeit, selber das Cello auf der Bühne zu spielen; Petra Schmidt eine feurige Kurtisane Giulietta, die ihre anspruchsvolle Partie souverän meistert. Almuth Herbst schließlich spielt die gewitzte, warmherzige Muse, die den liebeskranken Hoffmann am Ende wie ein Kind in die Arme schließt.
Nach überraschenden Neuausdeutungen oder Aktualisierungen sucht man in dieser Inszenierung vergeblich. Die atmosphärische Dichte und Schlüssigkeit der Erzählung sind allerdings so überzeugend, dass Dijkemas Hoffmann nicht konventionell wirkt. Hier geht’s um Romantik – nicht um Politik.
„Hoffmanns Erzählungen“ | R: Michiel Dijkema | 3.(WA), 17., 24.9. 18 Uhr | Musiktheater im Revier Gelsenkirchen | 0209 409 72 00
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