Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
3 4 5 6 7 8 9
10 11 12 13 14 15 16

12.594 Beiträge zu
3.820 Filmen im Forum

Anne Frank, Passfoto, Mai 1942

Wem gehört Anne Frank?

03. Februar 2025

„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25

Die Autorin Lola Lafon verbringt in ihrem autobiografischen Roman „Immer wenn ich dieses Lied höre“ eine Nacht im Versteck der Familie Frank. Wichtiger als die Nacht selbst ist für das Buch der Reflexionsprozess, den Lafon durchläuft. Sie zeigt anhand vieler Beispiele, welche Faktoren die Wahrnehmung des berühmten Tagebuchs beeinflussen. Es beginnt schon mit der Frage, welchem Genre es zugerechnet werden sollte: „Zeugenbericht, ein Testament, ein Werk?“ Lafon arbeitet heraus, dass Anne Frank mit Überarbeitungen anfing, sobald Radio Oranje 1944 meldete, dass Briefe und Tagebücher aus dieser Zeit einmal wichtige Dokumente sein würden. Lafon wird in Vorbereitung auf ihre Nacht im Hinterhaus eingeschärft, das Tagebuch nicht als Einsatz für Frieden zu beschreiben, weil Anne Frank schlicht gelesen werden wollte. Wem das Tagebuch gehöre, fragt sich Lafon: „Ihren Lesern? Den Verlagen? Ihrem Vater, dem die Veröffentlichung zu verdanken ist?“ Sie kritisiert, dass bei verlegerischen Eingriffen oder Adaptionen fürs Theater mitunter Anne Franks Stimme übertönt würde. Lafon lässt Vielstimmigkeit zu und gibt ohne zu dozieren wieder, was sie dazulernt. Zugleich sucht sie nach einem Platz für ihre Perspektive und Geschichte. Letztlich hat sie sehr persönliche Motive, die wenig mit Anne Frank zu tun haben.

Es dauert, bis Lafon das Hinterhaus betritt. Sie hält sich lange mit Vorbereitungen auf und räumt ein, dass sie damit das Schreiben aufschiebt. Vor Ort geht sie mit erstaunlich wenig Plan vor. Vielmehr checkt sie routinemäßig Mails und lässt das Nichts auf sich wirken, das dort seit der Plünderung durch die Nazis herrscht. Starken Passagen folgt oft Zaudern: Mehrfach schildert sie ihre Befangenheit – beim Lesen wird spürbar, dass Lafon ihren Zugang erst beim Schreiben findet. Lange weiß die Autorin nicht, was die Nacht mit ihr macht, und lässt genauso Lesende im Unklaren. Sie mäandert durch Versteck und Museum, doch spart bis zuletzt Anne Franks Zimmer aus. Ihre Umwege verdeutlichen, wie viel Überwindung Lafon der Schritt über die Schwelle kostet. Den Grund dafür erläutert sie am Ende unvermittelt, stellt aber wenig Bezug zum Rest des Buches her.

Immer wenn ich dieses Lied höre | Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke | Aufbau Verlag | 173 S. | 22 Euro

Melanie Schippling

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Mickey 17

Lesen Sie dazu auch:

Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25

Verrätselter Alltag
Maren Kames liest im Literaturhaus Dortmund

Die Währung für alles
Ulrich Peltzer liest in Düsseldorf

Störrisch, dumm und eigensinnig?
„Esel“-Lesung im Düsseldorfer Schloss Benrath

Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25

Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25

Mord aus der Vergangenheit
Eva Völler liest in der Mayerschen Essen

Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25

„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25

Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25

Unsichtbare Krankheiten
„Gibt es Pflaster für die Seele?“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 01/25

Gespräch über die Liebe
„In einem Zug“ von Daniel Glattauer – Textwelten 01/25

Literatur.

HINWEIS