Hunger kann in den Wahnsinn treiben – oder doch zumindest heftig die Wahrnehmung verzerren. Auf dieser These baut der holländische Regisseur und Bühnenbildner Michiel Dijkema seine Inszenierung der Humperdinckschen Märchenoper „Hänsel und Gretel“ auf, die das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier zeigt. Wenn sich dort die Kinder im Wald verirren, zeigt Dijkema keine Bäume, sondern surreal überdimensionale Gabeln und Steakmesser mit bedrohlich scharfen Spitzen und Kanten. Die Landschaft aus Besteck ist eine Vergrößerung des heimischen Esstischs. Hänsel hatte die Klingen und Forken resigniert ins Holz gerammt, weil die Küche mal wieder kalt geblieben war. Die Stiefmutter (Noriko Ogawa-Yatake im Wechsel mit Majken Bjerno) ist eine zänkische Schlampe, die in Camouflage-Hose, Kittelschürze und mit Lockenwicklern auf dem Kopf (Kostüme: Claudia Damm) durch die Küche fegt und ihren Frust an den Kindern auslässt. Und auch vom Vater (Bjørn Waag) ist nicht viel zu erwarten. Die leere Pulle in der Hand steht da ein sichtlicher Schluffi in der Tür, kratzt sich im Schritt und interessiert sich herzlich wenig für die Familie. Willkommen bei den Flodders! Hänsel und Gretel wachsen am untersten Rand der Unterschicht auf. Die Regie hat sie aus dem fernen Märchen- ins reale, heutige Hartz IV-Land an der Emscher verpflanzt.
Ein Depri-Stück wird es dadurch aber noch lange nicht. Ihren Spaß lassen sich Hänsel und Gretel nämlich keineswegs verderben. Dijkema lässt sie als fröhliche kleine Punks mit bunt gefärbten Dreadlocks agieren, die beinahe der smarten Geschäftsfrau Rosine Leckermaul und ihrem smarten Marketingkonzept auf den Leim gehen. Die Lebkuchen dieser modernen Knusperhexe sind bunt verpackt, und gebacken werden sie auch nicht mehr in einem schnöden Ofen. Die Hexe hat eine gruselig groteske Häcksel-Knet-Backmaschine, in der sie beim großen Showdown schließlich ihr eigenes Ende finden wird. Als Bühnenbildner landet Dijkema damit einen echten Coup.
Überhaupt ist die Gelsenkirchener Märchenoper ein großer Spaß. Almuth Herbst als Hänsel und Alfia Kamalova (im Wechsel mit Engjellushe Duka) als Gretel wirken gesanglich wie darstellerisch ungeheuer frisch und jugendlich. Tenor William Saetre gibt (im Wechsel mit Mark Murphy) in seinem unverkennbar männlichen Timbre eine herrlich boshafte Knusperhexe. Dem Komponisten Engelbert Humperdinck hat die Besetzung der Hexenpartie mit Tenören nie sonderlich behagt. In der Gelsenkirchener Inszenierung ist sie (wie heute meist) ein komischer Höhepunkt. Die Musik kommt indes keineswegs zu kurz. Der erst 30jährige Erste Kapellmeister Johannes Klumpp findet die rechte Balance zwischen dem Charme kinderliedhafter Einfachheit und dem komplexen Farbenreichtum des von Richard Wagner inspirierten Orchestersatzes. Bemerkenswert ist auch die hohe Qualität des Kinderchores unter Leitung von Alfred Schulze-Aulenkamp. Dem Duo Klumpp/Dijkema gelingt insgesamt der Spagat zwischen jungem und erwachsenem Publikum ganz hervorragend.
„Hänsel und Gretel“ I Musiktheater im Revier Gelsenkirchen
Sa 4.12., 19.30 Uhr I 0209 409 72 00
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