Es mutet schon anachronistisch an, wenn sich im Zeitalter digitaler Medien von Facebook bis Twitter ein Kulturfestival „Klopsztanga“, deutsch: Teppichklopfstange nennt. Das war, und scheint wohl in Polen immer noch, der beliebteste Ort zum (analogen) Informationsaustausch von Jung und Alt zu sein. Hier wird geklönt, gequatscht, gelacht, hier lernt man sich kennen und verliebt sich, hier passiert das wirkliche Leben. Ein bisschen von diesem originären polnischen Leben und Kulturleben soll jetzt das Festival „Klopsztanga. Polen grenzenlos NRW 2012“ vermitteln. Unter dem Label dieses grammatikalisch wie inhaltlich unverständlichen Wort-Ungetüms werden im Juni in nordrhein-westfälischen Städten polnische Kunst und Musik, Tanz und Theater präsentiert.
Die Auftakt-Veranstaltung zum Tanzprogramm fand im Tanzhaus NRW in Düsseldorf statt und hat sich das polnische Leben selbst zum Thema genommen. Dass dieses Leben nicht behäbig an der Teppichklopfstange beginnt und endet, sondern ganz im Gegenteil oft temporeich, komisch und rasant abläuft, hat der englische Choreograf Nigel Charnock mit acht polnischen Tänzerinnen und Tänzern in „Happy“ festgehalten. In dem Tanztheater fügen sich die zahlreichen Szenen und rasanten Tanzsequenzen zu einem ländlichen Sittengemälde à la Bruegel, das mit den polnischen Eigenarten des Lebens oft ironisch, immer sympathisch, aber manchmal auch zu kritiklos umgeht. Es ist ein herrlich verrücktes, crazy Stück Tanztheater: Ausgelassen tanzen, springen, jauchzen, kreischen und fallen sie, selten allein oder in einem Duett, meist als Gruppe und mit einer geradezu ansteckenden Gruppendynamik. Dass Polka, Marsch und Galopp irgendwie zu Polen gehören, ahnte man ja schon. Jauchzend werfen die Tänzerinnen in ihren luftigen Kleidchen dazu die Arme hoch, springen und wirbeln durch die Luft und landen immer wieder auf dem Boden. Dort finden sich alle in fast jeder Szene wieder, und das liegt vornehmlich daran, dass auf den Dorffesten nicht nur getrunken, sondern bis zum Umfallen gesoffen wird. Jaja, die Polen verstehen zu leben. Anfangs tanzen sie noch ein urkomisches Duett mit der Wodkaflasche, später ufern die Ring- und Gruppentänze zu regelrechten tänzerischen Gelagen aus, bei denen zum Schluss auch die Klamotten fliegen und alle in Unterwäsche über den nassen Boden rutschen. Spätestens da hat der Klamauk die Tanzbühne erreicht. Ab diesem Punkt ist es auch völlig gleichgültig, ob hier polnische, deutsche oder englische Stereotype torkelnd tanzend hinterfragt werden oder einfach nur eine ausgelassene tänzerische Sause abgeht. Unterhaltend ist die allemal.
Das Stück ist 2009 aus einem Coaching- und Improvisations-Projekt entstanden, das Nigel Charnock mit der Art Stations Foundation für polnische Tänzer veranstaltete. Leider sprang bei aller Dynamik einzelner Szenen die Begeisterung der Entstehungszeit bei der Aufführung im Tanzhaus NRW nicht auf das Publikum über. Das lag wohl vorwiegend an den meist polnisch gesprochenen Szenen und Kommentaren, so dass dem deutschen Zuschauer der Leitfaden durch das Stück fehlte. Aber vielleicht reicht ja, was Nigel Charnock über „Happy“ sagt: Lachen bis zum Schreien. Tanzen bis zum Umfallen.
Das gesamte Programm: www.klopsztanga.de und www.tanzhaus-nrw.de
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