Ein Stenz, im Volksmund eine Art Zuhälter, hatte einstmals nicht nur in der Rheinmetropole Köln einen zweifelhaften Ruf. Er galt als arbeitsscheu und gewalttätig. Bis Markus Stenz auftrat, eine jugendliche Lichtgestalt, der als Generalmusikdirektor der Stadt Köln und damit als Gürzenich-Kapellmeister eine Dekade lang vornehmlich Sonne über die städtische Musikpflege ergoss. Der Stenz ist heut der Markus, zumindest im verblühenden Bildungsbürgertum der Domstadt. Aber auch für den musikalischen Hörernachwuchs hat sich der einstige Kölner Musikstudent stets stark gemacht, selbst noch in seinem Abschiedskonzert nach zehn Jahren mit den „Gurre-Liedern" von Arnold Schönberg: Dieses gigantomanisch besetzte Werk mit mehr als 400 beteiligten Musikern führte Stenz als pädagogisches „experiment klassik" mit dem Kultur-Erklärer Ranga Yogeshwar auf.
Auch im Gespräch mit den Musikverantwortlichen des WDR klang an, die Orchestermitglieder sähen ihre häufigen pädagogischen Einsätze mittlerweile nicht mehr als Zugeständnis für das Management, sondern als persönliches Anliegen und als notwendiges Engagement für ein zukünftiges Publikum. Dass aber jetzt ein so kostenintensives und aufwendiges Monumentalepos mit seinen zahlreichen Helfern für eine Hörprobe klassischer Musik aufgefahren wurde, darf auch als Signal verstanden werden: Wir meinen es ernst!
Die Veranstaltung selbst war ansprechend gestaltet. Ranga Yogeshwar, für die einen ein angenehmer Vollsympath, für andere ein sich selbst zelebrierender Gutmensch und Alleswisser, ausgebrütet in der Wissenschaftsredaktion des WDR, gelang live ein Konsumenten-naher Einstieg nicht in den gewaltigen Komplex klassischer Musik, sondern nach wenigen Randbemerkungen in kleinste Einheiten einer wirklich besonderen Komposition. Die Exposition der Analyse übernahm Stenz mit seinen Musikern, und so hörten die gespannten Gäste Klangbeispiele aus nur zwei Takten dieser riesigen Partitur: Was spielen die vier Harfen, was die vier Piccoloflöten, wie klingen die zehn Hörner, wie klingt jedes einzeln hervorgehobene Instrument, was bringt die Summe aller im Tutti zu Wege? Bei 140 Musikern sind zwei Takte eine ereignisreiche und komplexe Klangstrecke, da staunte der Laie über so viel Originalität im Detail. Zum Abschluss einer guten Unterrichtsstunde durften die Neugierigen in der Kölner Philharmonie selbst Stimme anlegen, einige Phrasen zur „Sonne" sang mit Hilfe der im Raum verteilten Choristen nun ein Chor aus 2000 Stimmen – Stenz und Yogeshwar waren ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung, wie gut ihr einfacher Plan funktionierte. Das Experiment wirkte so beglückend, dass die Zuhörer sich nach der verdienten Pause begeistert einen längeren Ausschnitt aus den Gurre-Liedern anhörten – der Applaus sprach für sich. Wer sich die Geschichte um Schloss Gurre und König Waldemar mit seiner Geliebten Tove tief romantisch-musikalisch erzählen lassen möchte – allerdings ohne Rangas Erklärungen –, dem sei dies vergönnt: Nach drei ausverkauften Konzerten wurde ein Sonderkonzert nachgeschoben, ein letzter Abschied von Markus Stenz in seiner aktuellen Position. Als Gastdirigent bleibt er uns am Rhein erhalten.
Arnold Schönberg: „Gurre-Lieder" | 4.6. 20 Uhr | Kölner Philharmonie | www.guerzenich-orchester.de
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