Über zwei Jahre hat es gedauert, bis die Coronapandemie als Mindset und Hintergrundrauschen in der Gegenwartsliteratur auftaucht. In Norbert Gstreins Roman „Vier Tage, drei Nächte“, aus dem der Wahl-Hamburger bei LesArt liest, findet sich dieser Kontext in Form einer Weihnachtsfeier, zu welcher der Vater der zwei Protagonisten eingeladen hat – natürlich ohne dass die damaligen Corona-Auflagen die Sause gestatteten. So plagen sich Gstreins Halbgeschwister Ines und Elias mit den allzu menschlichen Begleiterscheinungen der staatlich auferlegten Isolation und Distanz herum: Selbstbezüglichkeit, Wiederholungen, Klaustrophobie.
Dabei gehört der pandemische Ennui noch zu den geringsten Problemen. Denn die beiden Halbgeschwister erfahren erst von ihrer Verwandtschaft, nachdem sie sich längst verliebt haben. Und so entführt Norbert Gstrein seine Leser:innen in fast ödipale Verstrickungen über Inzest und verbotenes Begehren. Der verstörende wie kammerspielartige Roman des Österreichers bildet den Auftakt des LesArt-Festivals, bei dem vom 3. bis 13. November renommierte wie vielversprechende Autor:innen ihre aktuellen Werke präsentieren.
Gleich zwei Tage später ist es eine weitere österreichische Autorin, die im Ruhrgebiet liest: Stefanie Sargnagel – eigentlich bekannt durch ihre unter dem Titel „Statusmeldungen“ zusammengefassten und herausgebrachten Posts auf Twitter und Facebook – kommt mit ihrem Debütroman „Dicht“. Der Titel ist Programm; die Wienerin erzählt eine autofiktive Coming-of-Age-Story, in der Punks und andere Außenseiter reichlich zugedröhnt durch ihre Existenz torkeln, um ihren Erlebnishunger und ihren Freiheitsdurst zu stillen.
Vorbei mit der Freiheit scheint es dagegen in jener Türkei zu sein, die Lucy Fricke im Roman „Die Diplomatin“ beschreibt. Darin erzählt die Autorin von einer titelgebenden Abgesandten, die nach Istanbul versetzt wird. Dort verliert sie den Glauben an die Diplomatie angesichts der autokratischen AKP-Herrschaft, die als eine Art geopolitischer Türsteher vor Geflüchtete für die BRD fungiert. Fricke liefert Suspense im Stile eines klassischen Thriller-Kinos, ohne das moralische Dilemma zu beschreiben: Urlauber und Tote. Denn beide frequentieren die türkische Küste.
LesArt. Festival | 3.-13.11. | div. Orte in Dortmund | www.lesart.ruhr
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Mörderischer Hörgenuss
Jens Wawrczeck liest „Marnie“ in Bochum
Unglückliche Ehen
„Coast Road“ von Alan Murrin – Literatur 04/25
Die Kunst der zärtlichen Geste
„Edith“ von Catharina Valckx – Vorlesung 04/25
Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25
Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25
„Die großen Stiftungen scheinen es nicht zu kapieren“
Gerd Herholz über sein Buch „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ – Interview 04/25
Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25
Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25
Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25
Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25
Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25
Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25
Die Unschärfe der Jugend
Diskussion über junge Literatur im Essener KWI – Literatur 04/25
Erinnerungskultur
Gegen Vergessen und für Empathie – ComicKultur 04/25
Die Geschichte der Frau
Ein Schwung neuer feministischer Comics – ComicKultur 03/25