Während Dortmund und Herne mit den dortigen Literaturhäusern inzwischen über eigenständige Institutionen des Literaturbetriebs verfügen, ist dies in Bochum, der bundesweit einzigen Kommune mit einem Buch im Stadtwappen, nach wie vor nicht der Fall. trailer sprach mit dem Bochumer Germanisten Ralph Köhnen, einer der beiden Sprecher der hiesigen Literarischen Gesellschaft.
trailer-ruhr: Die 1905 gegründete Literarische Gesellschaft Bochum ist neben dem Schauspielhaus eine der ältesten kulturellen Institutionen der Stadt. War es schon immer so, dass die ‚Literarische‘ nicht über ein eigenes Haus verfügte und – zumindest was die Veranstaltungen betrifft – ‚nomadisierte‘? Wird sich dies in Zukunft vielleicht ändern und wie ist der Diskussionsstand in Sachen ‚Literaturhaus Bochum‘?
Ralph Köhnen: Seit 1905 und bis heute ist uns ein eigenes Haus verwehrt geblieben – eine Situation, die man in Zeiten der ‚Literaturhäuser‘ als Mangel sehen kann, die wir aber als ‚angewandte Nomadologie‘ leben und der wir auch etwas abgewinnen. Natürlich bleibt ein solches Literaturhaus wünschenswert – nicht in ‚Ruhr‘-Dimensionen, dafür sind die Strukturen zu weitläufig und divers, sondern für die Stadt. Allerdings schaffen wir es so eben auch, jeden Euro an Einnahmen und ohne Verlust in Veranstaltungen umzusetzen, was bei ‚stehenden‘ Häusern nicht möglich ist (je nach Größe fließt dort etwa die Hälfte der Mittel für den schieren Unterhalt ab). Auch zwingt die stete Neuverabredung von Räumen ja dazu, über neue Formate nachzudenken – über die reine Lesung ‚Autor an Wasserglas‘ sind wir längst hinaus und möchten weiter experimentelle Formen erproben.
Wie sieht das Veranstaltungsprofil der ‚Literarischen‘ allgemein und 2016 im Besonderen aus? Ist für die nächsten drei Monate die eine oder andere prominente Veranstaltung geplant?
Uns interessiert der Spagat zwischen Höhenkamm- und Alltagskultur, was nicht ganz direkt, aber schon ein wenig mit Geldfragen zu tun hat. Hochpreisige Lesungen sind nur mit Sponsoren zu stemmen, was aber auch für Projekte wie Schreibwettbewerbe oder etwa unseren Lesemarathon von 2010 gilt, bei dem im Kunstmuseum Bochum 7 Tage und Nächte nonstop zum Thema ‚Tugend und Laster’ gelesen wurde. Für dieses Jahr steht nach der jüngsten Lesung mit Adolf Muschg noch Burkhart Spinnen auf dem Programm (weitere sind noch zu verabreden), sodann Lesungen mit hiesigen Literaturgruppen, aber auch eine Hörspielproduktion (zusammen mit der Stadtbücherei, die ebenfalls ihr 111-jähriges Bestehen feiert). Ferner gründen wir Lesekreise, arbeiten aber auch weiterhin an unseren Lesereihen mit Schauspielern, die unlesbare moderne Langromane zugänglich machen wollen (siehe Proust, Musil oder Thomas Mann, mit dem Prinz-Regent-Theater arbeiten wir an einer Aktionslesung des ‚Ulysses'). Zusammen mit der Ruhr-Uni geben wir das Literaturmagazin ‚fusznote‘ heraus, das nun zum zehnten Mal erscheint – genug Arbeit also weiterhin!
Reicht das Budget der ‚Literarischen‘ aus, um die Literaturszene in Bochum in ähnlichem Maße zu fördern, wie dies andernorts (z. B. in Köln) der Fall ist? Was würdest Du Dir vielleicht von Seiten der Kommunalpolitik wünschen, um diese Situation zu verbessern?
Tatsächlich sind wir für jede Spende wie auch Zuwendung von Sponsoren dankbar, da die Mitgliedsbeiträge bei weitem nicht die Kosten decken. Förderung von Literaturprojekten vor Ort können wir nur begrenzt leisten; diese werden auch oft eigenständig beantragt und durchgeführt. Das Literaturbüro Ruhr (Gladbeck) hat uns schon in einigen Fällen geholfen, da sind wir in guten Gesprächen. Ich hätte aber auch nichts dagegen, wenn sich Firmen mit unserem Logo schmücken – wenn die künstlerische Eigenständigkeit gewährt bleibt, würde ich sogar eine Kooperation mit Red Bull eingehen...
Was reizt Dich persönlich am meisten an Deiner Tätigkeit als einer der beiden Sprecher der Literarischen Gesellschaft Bochum und was hat in der Vergangenheit am meisten Spaß gemacht?
Immer wieder neu denken zu müssen, Erfahrungen mit Künstlern zu machen, die sich aus dem bloßen Lesen der Buchseiten nicht ergeben; überhaupt mitzubekommen, dass Literatur nicht vom Himmel fällt, sondern von lebenden Menschen gemacht wird unter immer besonderen Umständen - das macht die Arbeit interessant. Und obwohl der klassischen Lesung schon oft die Messe erteilt wurde, gibt es hier immer Entdeckungen zu machen. Lesung ist ‚live‘: Es kann schiefgehen oder langweilig sein – oder hochspannende ‚Präsenz‘ bieten. Am meisten Spaß gemacht haben – neben einigen eindrucksvollen Lesungen - die Schreibwettbewerbe ‚Geld schreibt‘ und ‚Mein Bochum‘, aber auch der Lesemarathon im Rahmen der Ruhr.2010, der meines Wissens einzigartig in der Kulturlandschaft steht.
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