Im Ausstellungskatalog kommt das alles noch viel härter rüber. Dort sind die teils aufrührerischen, teils obszönen Zitate geballt abgedruckt und die Abbildungen werden mehr auf die Geschehnisse hin gesehen. Die Ausstellung „Der böse Expressionismus“ in der Kunsthalle Bielefeld aber ist ein ästhetisches Erlebnis, das diese Kunstrichtung des frühen 20. Jahrhunderts in Deutschland als damals zeitgenössische Form des Protestes und der Aufdeckung gesellschaftlicher und sozialer Verhältnisse verdeutlicht. Es ist die Zeit der Weimarer Republik mit dem Aufblühen der Großstädte, des Kabaretts, des gesellschaftlichen Lebens, einer gewissen Emanzipation der Frau – und in all das bricht ab 1914 der Erste Weltkrieg hinein. Kunst, Literatur und Theater schlagen Kapriolen (denken wir nur an Dada), vermischen Endzeitstimmungen mit Enthemmungen, und eine herausragende Kunstrichtung der jungen Avantgarde ist eben der Expressionismus. Die Künstler, die oft selbst aus dem bürgerlichen Milieu stammen, lehnen sich nun gegen dieses und dessen Konventionen auf. Sie zeigen sich als Bohème in den Nachtclubs, wenden sich sexuellen Tabus zu, schildern Mord und Vergewaltigung und werfen einen neuen Blick auf den Moloch Großstadt. Schließlich widmen sie sich dem Menschen zwischen sozialer Realität und Utopie und schildern die Ereignisse des Krieges.
Der Expressionismus zeigt sich aber auch zum Beispiel im neu kreierten Ausdruckstanz, der ebenfalls in diesen Bildern dokumentiert ist. Die Körperformen sind oft kantig und gelängt und zumal in den grafischen Blättern mit einer harten Kontur umrissen. Die Gesichter sind wie afrikanische Masken gemeißelt, dazu sind die Farben häufig leuchtend; mitunter lösen sie sich vom Lokalkolorit. Viele der Figuren sind in einer tänzerischen, exaltierten Bewegtheit begriffen, oder sie treten bullig, aggressiv auf: als Spießer oder Gewalttäter… Die Ausstellung in Bielefeld wendet sich nun also den Schattenseiten des Expressionismus zu, in Kapitel unterteilt nach Motiven und Handlungen. Sie setzt dabei noch einige Künstler ins rechte Licht, die neben den heute populären „Brücke“-Künstlern und den scharf sezierenden kritischen Künstlern wie Dix und Grosz gemeinhin eher in den Hintergrund treten, darunter Hermann Stenner und Gert H. Wollheim. Und auch wenn er nicht so recht zum Ausstellungsthema passen will, ist ebenso der grandiose Bildhauer Rudolf Belling mit mehreren seiner stilisierten Köpfe und Figuren dabei, die wie ein Leitsystem in verschiedenen Räume stehen: Für die Ausstellung sind sie ein Gewinn. Aber überhaupt, das Ausstellungsprogramm der Kunsthalle Bielefeld, die 1968 von Philip Johnson entworfen wurde, gehört mit zum interessantesten unter den Häusern seiner Klasse in NRW. Das bestätigt nun diese Ausstellung.
Der böse Expressionismus | bis 11.3. | Kunsthalle Bielefeld | www.kunsthalle-bielefeld.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Noch gemalt
„Zwischen Pixel und Pigment“ in Herford und Bielefeld – Kunst in NRW 09/24
Das aktuelle Museum
Monica Bonvicini in der Kunsthalle Bielefeld – Kunst in NRW 11/20
Fenster in die Welt
Anna Oppermann in Bielefeld – Kunst in NRW 07/19
Europäer in Amerika
Hans Hofmann in der Kunsthalle Bielefeld – Kunst in NRW 02/17
„Hommage an die einstige Subkultur, aus der sie kommt“
Mit drei Weggefährten: Die Musikerin Anohni kuratiert ihre Ausstellung in Bielefeld – Sammlung 08/16
Angewandt frei
Sophie Taeuber-Arp in der Kunsthalle Bielefeld – Kunst in NRW 03/15
Zum Ausklang des 19. Jahrhunderts
Eine Ausstellung zum deutschen Symbolismus in der Kunsthalle Bielefeld – Kunst in NRW 06/13
Tony Smith
Ausstellung in der Kunsthalle Bielefeld
Planet Picasso
Ausstellungen in Köln, Bielefeld und Münster - Kunst in NRW 10/11
Richter daheim
Gerhard Richter im Kunstpalast Düsseldorf – Kunst in NRW 11/24
Menschen allein
Lars Eidingers Ausstellung „O Mensch“ in Düsseldorf – Kunst in NRW 10/24
Farbe als Ereignis
Katharina Grosse im Kunstmuseum Bonn – Kunst in NRW 07/24
Farbe an Farbe
Otto Freundlich und Martin Noël in Bergisch Gladbach – Kunst in NRW 06/24
Am Anfang der Abstraktion
Hilma af Klint und Wassily Kandinsky in Düsseldorf – Kunst in NRW 05/24
Glaube und Wissenschaft
Louisa Clement im Kunstmuseum Bonn – Kunst in NRW 04/24
Das eigene Land
„Revisions“ im Rautenstrauch-Joest-Museum Köln – Kunst in NRW 03/24
Ritt durch die Jahrhunderte
Die Neupräsentation im Kunstpalast in Düsseldorf – Kunst in NRW 02/24
Ende eines Jahrhunderts
George Minne und Léon Spilliaert in Neuss – Kunst in NRW 01/24
Puls des Lebens
Chaïm Soutine im K20 in Düsseldorf – Kunst in NRW 12/23
Ganz leicht
Christiane Löhr im Bahnhof Rolandseck – Kunst in NRW 11/23
Die stille Anwesenheit der Dinge
Cornelius Völker im Kunstpalast Düsseldorf – Kunst in NRW 10/23
Aus anderer Perspektive
Szenenwechsel der Sammlung im K21 in Düsseldorf – Kunst in NRW 09/23
Kunst und Umgebung
„Produktive Räume“ in Haus Lange Haus Esters in Krefeld – Kunst in NRW 08/23
Dialog auf Gegenseitigkeit
„yours truly,“ im Museum Schloss Morsbroich – Kunst in NRW 07/23