Autoren scheint in Deutschland so etwas wie die notorische Rolle des Prügelknaben vorbehalten zu sein. Mit schöner Regelmäßigkeit beklagen sich die jeweiligen Kritikergenerationen in ihren Feuilletons über die fehlende Qualität der literarischen Zunft. Es gäbe zu viele Autoren, mäkeln die einen, man solle sie mit Stipendien durch die Welt schicken, meinen die anderen, und Florian Kessler, inzwischen Lektor beim Hanser Verlag, beklagt sich über fehlende Originalität der literarischen Erzeugnisse.
Ulla Lenze gehört etwa zu jenen Autorinnen, die man in die Fremde geschickt hat. Die Stadt Köln finanzierte ihr einen Aufenthalt in Istanbul. Eine ausgesprochen lohnende Investition, wie sich jetzt zeigt. Denn die 42-Jährige legt in diesem Frühjahr unter dem Titel „Die endlose Stadt“ einen Roman vor, der eines der interessantesten Porträts der Stadt Istanbul liefert, das je in deutscher Sprache geschrieben wurden. Die Geschichte spielt in Berlin, am Bosporus und im indischen Mumbai und erzählt von Holle, einer Künstlerin, die sich bei einem Aufenthalt in Istanbul in einen Imbissbesitzer verliebt. Aber Holle steht zwischen zwei Männern, denn da ist noch Christoph Wanka, ein reicher Geschäftsmann, der kräftig in Kunst investiert. Mit großer Reife, die sich in plastischen Charakteren und realistischen Bildern zeigt, erzählt Ulla Lenze vom Konflikt zwischen Kunst und Geld. Ein Roman, der konsequent aus der weiblichen Perspektive geschrieben ist. Nehmen und Geben, was heißt das für die eigene Integrität, wie hängen Käuflichkeit, Begehren und Unabhängigkeit zusammen? Fragen, denen sie subtil nachgeht, während sie zugleich eine packende Geschichte entwickelt.
Auch Doris Knecht stellt diesen Konflikt ins Zentrum ihres Romans „Wald“. Ihre Heldin Marian hat alles verloren, Geld, Firma und Ansehen, nun geht es um das nackte Überleben in einem kleinen Haus in den Alpen, dem letzten möglichen Rückzugsort. Doris Knecht macht ernst, denn wir erleben, wie die Frau aus der Großstadt fischen lernt, wie sie Gemüse stiehlt und in Abhängigkeit zum Großbauern Franz gerät. Von ihm erhält sie sporadische Unterstützung und liefert erotische Dienstleistungen. Ist das eine Beziehung, selbstbestimmte Ausbeutung, ein Taktieren, oder sind doch Gefühle im Spiel? Doris Knecht bewegt sich hautnah an der körperlichen Realität und erzeugt damit ein soghaftes Leseerlebnis. Ein Text voller Melancholie, Humor und Sinnlichkeit ist Doris Knecht gelungen, der unsere gesellschaftliche Realität aus der weiblichen Perspektive durchleuchtet und ein klug vorbereitetes Finale bietet.
Nicht originell, dafür aber substanziell in seiner Sprache und der Dichte seiner Reflexion erweist sich das „Zeitreisetagebuch“ von Anne Weber, das sie jetzt unter dem Titel „Ahnen“ publiziert. Der Titel bezieht sich auf die Erforschung der Lebensgeschichte ihres Urgroßvaters Florens Christian Rang (1864-1924), einem evangelischen Pfarrer, der mit Hugo von Hofmannsthal und Walter Benjamin korrespondierte. Zugleich beschreibt er aber auch den Prozess, mit dem wir uns tastend in die Welt der Vorfahren hinein zu imaginieren versuchen. Ein großartiger Text, der mit poetischer Genauigkeit eine Vorstellung von der Nähe und Fremdheit gibt, die sich zwischen uns und unseren Vorfahren auftut. Was heißt es heute, deutsch zu sein, Anne Weber gibt Antworten, die auch in der nächsten Generation noch Gültigkeit besitzen.
Ulla Lenze: „Die endlose Stadt“ | Frankfurter Verlagsanstalt | 256 S. | 19,90 €
Doris Knecht: „Wald“ | Rowohlt Berlin | 272 S. | 19,95 €
Anne Weber: „Ahnen.“ | S. Fischer Verlag | 268 S. | 19,99 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24
Eine wahre Liebesgeschichte
Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ – Textwelten 12/24
Die Ruhe vor der Revolte
M. Fallwickl liest im Bochumer Bahnhof Langendreer
Teslas Friedenswaffe
Alida Bremer liest in der Düsseldorfer Zentralbibliothek
Enfant Terrible
Clemens Meyer zu Gast bei Proust in Essen
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Literatur in Höchstform
25. LesArt.Festival in Dortmund – Festival 11/24
Schaffenskraft und Schaffenskrise
20. Ausgabe des Festivals Literaturdistrikt in Essen – Festival 11/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
Zwischen Utopie und Ökoterrorismus
Tagung „Klimafiktionen“ in Bochum – Literatur 12/24
Das Über-Du
Auftakt von Literaturdistrikt mit Dietmar Dath und Wolfgang M. Schmitt – 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24