„Was hast du denn für eine Familie?“ Dieser Frage sieht sich Sacha Batthyany, Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung, eines Morgens ausgesetzt, als er in der Redaktion den Text zu einer Reportage in die Maschine tippt. Eine Kollegin schiebt ihm einen ausgerissenen Zeitungsartikel zu. Seine Großtante Margit Thyssen, Konzernerbin und eine der reichsten Frauen Europas, hat offenbar im März 1945 in ihrem Schloss in Rechnitz im Anschluss an ein Fest gemeinsam mit anwesenden SS-Offizieren 180 jüdische Häftlinge erschossen. Ein Schock für Batthyany, der zum Jahrgang 1973 gehört und in der Schweiz aufgewachsen ist. Es stellt sich für ihn schnell die Frage: „Und was hat das mit mir zu tun?“ So lautet der Titel seines Buchs, in dem er die Geschichte seiner Familie durchpflügt.
Im Laufe seiner Reisen durch Ungarn, Moskau und Buenos Aires kommt er einem Doppelmord auf die Spur. Im ehemaligen Schloss seiner Familie wurde 1944 ein jüdisches Ehepaar hinterrücks erschossen. Die Eltern von Agnes, der Freundin seiner Großmutter Maritta. Agnes kam nach Auschwitz, Maritta versuchte sie zuvor in einem Auffanglager zu besuchen. Agnes befand sich dort tatsächlich, gab sich aber aus Angst nicht zu erkennen. In diesem Lager in Ungarn, in dem die jüdische Bevölkerung auf den Abtransport in die Vernichtungslager wartete, brachte man später die Menschen unter, die in Stalins Gulag transportiert wurden. Heute müssen dort Flüchtlinge auf ihre Abschiebung nach Afrika warten.
Aber das ist nur eine Fußnote in Batthyanys Bericht. Wir begleiten ihn bei seiner Recherche, die ihn bis an den Ural und schließlich nach Argentinien führt, wo er Agnes besucht, die Auschwitz überlebte. Batthyanys Suche entwickelt einen unerhörten Sog. Sein Text enthält Humor und Verzweiflung und entpuppt sich als dramaturgisches Meisterstück. Seine Dynamik entwickelt er aus der immer wieder aufsteigenden Frage, ob unser Leben von den Verbrechen oder dem Leid der Großeltern beeinflusst wird. Wobei Batthyany letztlich klar wird, dass wir die Recherchen zu Tätern und Opfern nicht für eine höhere, historische Gerechtigkeit anstellen, sondern für uns selbst. Wir nehmen unseren Platz in der Generationenfolge erst ein, wenn wir die Verbrechen der Vergangenheit nicht in beklemmendes Schweigen hüllen, erst dann beginnen wir selbst als Generation zu existieren und Spuren zu hinterlassen.
Naomi Schenck geht wie selbstverständlich von diesem Punkt aus, nachdem sie erkennen musste, dass ihr geliebter Großvater auch eine Schattenseite besaß. Unter dem Titel „Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12“ schildert sie, wie ihr ein Wikipedia-Eintrag die SA-Mitgliedschaft ihres Großvaters eröffnet. Dieser sympathisch exzentrische Intellektuelle, der im Duisburger Zoo mit seinem Wissen die Delphine rettete und Leiter eines Max-Planck-Instituts war, gehörte zur braunen Schar der Mitläufer. Naomi Schenck erzählt, ebenso elegant wie weitschweifig von einer akademischen Welt, die sich im zuverlässigen Einfluss der Nationalsozialisten befand. Nur wer mit ihnen paktierte, konnte Karriere machen. Dieses in so freundlichem Ton geschrieben Buch, das so schön aus der gepflegten Welt des Bildungsbürgertums zu berichten weiß, offenbart die deprimierend weit verbreitete Tendenz, ethische Standards mühelos für lukratives Mitläufertum aufzugeben, das sich dann auch schon einmal in Schurkerei auswuchs.
Schenck und Batthyany besitzen als Enkel nichts von der zornigen Attitüde der 68er, vielleicht öffnen sie gerade deshalb neue, fruchtbare Perspektiven auf eine Vergangenheit, die uns hilft, die Gegenwart zu verstehen. Ganz ohne Fiktion bemühen zu müssen, demonstrieren sie, wie faszinierend sich gut geschrieben Recherche liest.
Im Rahmen der lit.Cologne stellen Schenck und Batthyany ihre Bücher gemeinsam am 16.3. um 19.30 Uhr in der Comedia vor.
Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? | Kiepenheuer & Witsch | 265 S. | 19,99 €
Naomi Schenck: Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12 | Hanser Berlin | 336 S. | 22,90 €
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