Als wir das Gebäude betraten, zwischen den meterhohen Säulen und durch eine der massiven Doppeltüren aus dunklem Holz, hatte George ein eigenartiges Gefühl. Als ob irgendetwas an der Ausstellung faul wäre. Aber er konnte nicht genau sagen, was es war.
„Hey Leute, irgendwas stimmt hier nicht.“
„Ach ja? Was denn?“, fragte ich.
„Das kann ich nicht genau sagen.“
„Vielleicht lastet auf diesen ollen Artefakten hier ja ein Fluch“, mischte sich Tim ein. „Gibt es da etwas, das du uns verschweigst, Georgie-Boy?“
„Warum, wie kommst du darauf? Woher soll ich denn etwas wissen?“
Tim deutete auf das große Banner, das zwischen zwei marmornen Nymphen hing, die leichtbekleidet (nur daran erkannte ich, dass es Nymphen sein mussten – vielleicht waren es auch Dryaden) die Decke des Foyers stützten. „Die littesten Schätze aus Togo“ stand darauf. Und in etwas kleinerer Schrift: „Das Land das schon Kultur hatte bevor wir kamen. For real!“ Und ich dachte mir: Das mit der Jugendsprache ist so peinlich wie jedes Mal, wenn Museen versuchen, Jugendliche anzulocken. Aber vielleichtmachtdie „Wokeness“ das ja wieder wett. Die jungen Leute stehen ja auf alles, was „Awareness“ schafft und so. Nur einen Korrekturleser – ähm, eine*n Korrekturleser*in hätten sie schon auch engagieren können.
Schätze to go
Tim deutete also auf dieses Banner und sagte zu George: „Du kommst doch aus Afrika. Deine Großeltern haben den hier ausgestellten Krempel doch sicher verflucht, als der weiße Mann kam und sich dachte: ‚Schätze aus Togo sind Schätze to go!‘ Und gleich guckt einer so eine Schatztruhe schief an und dann kommen da Geister raus und wir zerschmelzen alle bei lebendigem Leibe, schreiend und panisch, wie im ersten Teil von ‚Indiana Jones‘.“
„Aber ich komme doch gar nicht aus Togo!“, protestierte George, dessen Eltern in Wirklichkeit einer Ethnie aus dem Grenzgebiet zwischen Gabun und der Republik Kongoentstammten(so genau weiß der Autor das auch nicht; wer kennt sich schon in Afrika aus?).
„Woher denn dann?“, wollte ich wissen.
„Irgendwo aus dem Grenzgebiet zwischen Gabun und der Republik Kongo. Zumindest kommen meine Eltern da her. So genau weiß ich das auch nicht. Ich war nie da. Ich komme doch auch hier immer durcheinander. Ist Düsseldorf jetzt noch VRR oder schon VRS?“
„War das jetzt ironisch gemeint?“, fragte ich, doch George zuckte nur mit den Schultern und ließ mich mit der Frage allein, ob er jetzt wirklich eine Niete in Geografie war oder ob er den Autor gedisst hat.
Wir begaben uns über eine breite, geschwungene Treppe in den Ostflügel des Museums. Dorthin, wo über einer Tür güldene Lettern die „Sektion III: Ethnographie und Kolonialkunst“ versprachen. Die Tür wurde flankiert von zwei Deko-Bannern von der Sorte, wie sie Fachhochschulen oder Dachdeckerbetriebe auf Bildungsmessen aufzustellen pflegen. Darauf grinsten uns mehrere dunkelhäutige junge Menschen an. Schwer zu sagen, ob das billig eingekaufte Stockfotos waren oder eigens angefertigte Portraits von irgendwelchen Influencern. Weder der Autor noch das lyrische Ich kennen sich da aus. Die Anzahl der Logos von „Sponsor*innen und Partner*innen“ – vor allem irgendwelche staatsnahen Stiftungen oder Landesministerien – ließen Letzteres vermuten. „Afrika – Continent of Color“ stand ebenfalls auf den Polyesterbahnen.
Fremde Kulturen bei „Call of Duty“
Und dann standen wir vor den Vitrinen und Regalen und Podesten und Tabletts und Schauwänden, die teils dick und dunkel waren und deren geschwungene Intarsien von Friedrich II. persönlich gebeizt wurden und die teils schwarze Industrieware darstellten. Es waren prächtiger Schmuck und Haushaltsgegenstände zu sehen. Es glänzte und blinkte darin und darauf und auch in Tims Augen. Seine Einstellung zu diesem „Plunder“ hatte sich radikal verändert. Geschichte war für ihn immer so ein „Die machten ihr Ding, ich mache mein Ding“-Ding gewesen und fremde Kulturen waren die, die ihn beim „Call of Duty“-Zocken immer mit Wörtern, die er nicht verstand, beschimpften. Allerdings war er ein Ästhet (oder „Es-steht“, wie er es beim Flirten immer nannte). Tim liebte abstrakte oder zumindest abstrahierte Formen und Farben, ihm gefielen Sportwagen (nur die Karosserie, alles andere war ihm egal) und er war der Einzige aus meinem Freundeskreis, der vor moderner Kunst, wie sie in allen Städten der Welt für viel Geld und wenig Verständnis aufgestellt wird, stehenblieb und sie manchmal sogar abzeichnete. Wie in Hypnose flanierte er bereits jetzt durch die Ausstellung.
Die Ausstellung, die ich nicht verstand. Perlenketten sehen für mich immer gleich aus, egal ob „Burgund, 12. Jh.“, „Togo, 16. Jh.“ oder „China, 2020“. Anders verhält es sich mit „Perlenkette Alexanders des Großen“ – man, die Kette hatte mehr von der Welt gesehen als ich! Hatte sie dem großen Feldherrn vielleicht Glück gebracht? Hatte er sie von seiner sich sorgenden Mutter bekommen? Oder war sie für eine Affäre bestimmt gewesen? Doch die „Schnalle von König Gondwana“ (oder wie man in Afrika heißt – man kennt sich ja nicht aus da) ließ mich kalt. Ohne Kontext blickte ich nur auf Holz und Metall und bunte Steine. Ich versuchte, etwas über die Geschichte Togos zu lernen, ohne mich durch die „coolen“ Infotexte quälen zu müssen.
Walter Benjamins Aura
„Soma Na Gussa“, sagte George, der plötzlich hinter mir stand. „Und mit dieser Ausstellung stimmt immer noch etwas nicht.“
„Was?“, fragte ich.
„Soma, nicht König. Na Gussa, nicht Gondwana“, antwortete George. „Und mit dieser Ausstellung stimmt immer noch etwas nicht. Mir gefällt sie nicht. Sie ödet mich regelrecht an.“
„Sie ist nicht echt“, sagte Walter Benjamin, der plötzlich hinter George stand.
„Was?“, fragte George.
„Die Ausstellungsstücke, sie sind nicht echt“, antwortete der Philosoph und Autor des Aufsatzes „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, der seit 1940 tot ist. Aber dies ist schließlich ein Museum, da sind viele tote Dinge.
Und Walter Benjamin fuhr fort: „Die originalen Kunstschätze wurden kürzlich – endlich – zurück nach Togo gebracht, wo sie dereinst geraubt worden sind. Was ihr hier seht, sind nur Kopien. Faksimiles. Duplikate. Reproduktionen. Ihnen fehlen die Unnahbarkeit, Echtheit und Einmaligkeit des authentischen Kunstwerks. Die Aura – die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.
„Aura? Was redest du? Hast du Migräne?Oder bist du so ’n Eso?“
Der Philosoph fuhr unbeirrt fort. „Zugegeben, es sind gute Kopien, und von zehntausend Besuchern bemerkt ohnehin nur einer den Unterschied. Doch du, mein dunkelhäutiger Freund, kannst es spüren. Du spürst, dass die Aura fehlt.“
„Wieso? Weil ich schwarz bin? Ich komme aber gar nicht aus Togo, sondern aus dem Grenzgebiet zwischen …“
Wo ist die Kamera?
„Nein, weil die Geschichte drei Figuren braucht, du Pfosten! Eine, die in einem kunsthistorisch-ethnografischen Museum nur die Formen und Farben sieht, eine, die von der Geschichte hinter den Dingen fasziniert ist und eine, für die ohne die Aura des Originals alles nichts ist.“
„Ah“, machten George und ich.
„Ah“, machte eine Sekunde später auch Tim, der gerade zu uns kam und offensichtlich keine Ahnung hatte, worüber wir sprachen.
„Damit die Leser drei Dimensionen von dieser Kunst- und Kunstraub- und Raubkunst-Debatte kennenlernen und reflektieren“, sagte Walter Benjamin.
„Und, ist das gelungen?“, fragten wir.
„Weiß ich nicht. Ist es das?“, fragte Walter Benjamin zurück und wandte für einen Moment den Blick ab, so als ob er intensiv in eine Kamera gucken würde.
KOLONIALWAREN - Aktiv im Thema
tearthisdown.com/de | Die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und das Peng Kollektiv wollen Denkmäler und Straßennamen mit kolonialistischen Bezügen sichtbar machen.
hamburg.de/bkm/strassennamen | Informationen zur Aufarbeitung von Straßennamen mit kolonialistischen und nationalsozialistischen Bezügen in Hamburg.
statista.com/themen/6472/kolonialismus | Statistiken zum Kolonialismus, beispielsweise über „Häufige Straßennamen mit Bezügen zur Kolonialzeit in Deutschland“.
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