Ab und an werde ich gefragt, warum ich eigentlich meine Mitmenschen so hasse. Ich antworte dann gerne mit einem schlichten Satz: Ich bin Bahnkundin. Manch einer versteht mich dann sogar. Ach je, was gibt es da nicht alles zu erleben? Leute, die sich im Großraumabteil nicht nur die Fingernägel feilen und lackieren, sondern die Fußnägel gleich mit. Menschen, die sich im ICE-Ruheabteil in verschiedene Sitzreihen links und rechts vom Mittelgang setzen, um sich besonders laut unterhalten zu können. Menschen, die gehetzt wirkenden anderen Menschen mit Minimenschen auf dem Arm ihren Platz nicht überlassen wollen. Wenn es einen Ort gibt, den Dante bei seinen Schilderungen der neun Höllenkreise vergessen hat, dann ist das die überfüllte S-Bahn von Dortmund nach Düsseldorf. Oder die Abellio-Bahn ins Sauerland, wo es doch sogar oft genug nach Schwefel stinkt, wenn wieder eine Wandergruppe mit bis zum Knie gezogenen grauen Wollsocken ihre hartgekochten Eier verzehrt. Nur im Krankenhaus und im ÖPNV ist man dem menschlichen Grauen mit allen Sinnen und so unentrinnbar ausgesetzt.
Erkläre mir doch bitte mal einer, warum ich seit Jahren mehr Zugfahrkosten bezahle als Wohnungsmiete. Über 4000 Euro bezahle ich dafür, in Hannover Zeuge von Dialogen wie dem folgenden zu werden: „Ich bin zwar Schwäbin, spreche aber kein schwäbisch.‟ ‒ „Ach, Sie schwätze gar koi Deutsch?‟ Das möchte man doch nicht. Man will nicht zwangsläufig zum Teil eines eifernden Mobs werden und im Rudel die Fäuste gen Himmel recken, nur weil der ICE mal wieder nicht angehalten hat in Wolfsburg. Dabei sein, wenn das ganze Abteil murrt und schimpft, weil die Durchsage kommt, dass die Fahrt verlangsamt wird, wegen Personen im Gleis. Woraufhin im Zug dann einzelne Rufe laut werden wie „Mir doch egal‟ und „Fahr’ drüber‟. Erst im öffentlichen Nahverkehr merkt man, wie dünn die Tünche der Zivilisation eigentlich ist. Wie schnell sich Wildfremde lautstark verbrüdern, nur weil ein gemeinsamer Feind auszumachen ist: wieder drei Minuten Verspätung bei der Deutschen Bahn. Wie schnell sich eine Gruppe über eine andere erhebt, nur weil die Lacher beim Lästern über mangelnde Englischkenntnisse von Bahnpersonal so billig zu haben sind.
Als die allerersten Eisenbahnen mit Passagierbetrieb auf die Schienen kamen, wurde angeblich davor gewarnt, dass die dahin rasende Lokomotive ein „delirium furiosum‟, eine furchterregende Krankheit erzeugen würde. Kann schon sein. Dem Leiden entkommt man jedenfalls nicht. Egal, wie weit und wie schnell man fährt, man entflieht nicht dem Menschen, nicht dem Menschsein. „Die Hölle, das sind die anderen.‟ Dieser Satz stammt von Jean Paul Sartre aus dem Einakter „Bei geschlossenen Türen‟. Sartre liebte es übrigens, mit dem Zug zu fahren. Und das, obwohl er sein Leben lang das Gefühl hatte, ein Reisender ohne gültigen Fahrschein zu sein.
Genug schön geredet. Mit Humor, mehr oder weniger freundlicher Duldung oder sogar Akzeptanz des Absonderlichen ist nichts gewonnen. Die zunehmende Konzentration des Einzelnen auf ausschließlich die eigene Perspektive hat widerwärtige Folgen, im Mikrokosmos Bahn wie im Makrokosmos Welt. Vielleicht werden wir erst dann zu besseren Menschen, wenn wir lernen, uns selbst mit den Augen des Anderen zu überprüfen.
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