Je besser es uns geht, desto mehr drehen wir durch! Je globaler wir uns aufstellen, desto mehr mauern wir uns ein. Je demokratischer wir sind, desto demokratiefeindlicher wählen wir. Je freier wir uns bewegen, desto freiheitsberaubter fühlen wir uns. Je grenzenloser wir die Welt bereisen, umso aggressiver verteidigten wir unsere Reviergrenze. Der Mensch – völlig irre! Ursprung von alledem sind die Grenzen im eigenen Kopf, wo sich eine starre Trennungslinie manifestiert, in der nur noch Platz ist für schwarz oder weiß, für stark oder schwach. Für Pauschalisierung, politische Extremstandpunkte und bei immer mehr Zeitgenoss:innen für ein schleichendes und irgendwann nicht mehr zu korrigierendes Wahnsystem – das Weltuntergangsszenario. Angst, Hass, Dialogverweigerung, Radikalisierung, Faschismus. Auweia.
Dabei ist doch eigentlich das meiste prima in der Demokratie. Wir sind freier als viele andere, den meisten von uns geht’s vergleichsweise gut, wir haben uns hübsch eingerichtet in Wohlstand, Ordnung, Stabilität und eigener Meinung. Eine „eigene Meinung“, die gern als Symbol individueller Freiheit herausgeschrien wird, dabei aber oft weniger eigen ist als vielmehr stumpfe Parole.
Stumpf, nicht eigen
Ja, das Leben im Wohlstand ist immer ein Stück Truman Show. Hier bin ich Mensch, hier darf ich sein. Die wohlverdiente Blase. Geschützt und gestützt durch Grenzen und Gesetze. Alles andere: Die Große Freiheit! Und wenn die Welt herum ächzt und explodiert, dann schüttle ich halt betroffen den Kopf und klatsche in die Hände zur Zeitenwende – solange sich dadurch nix ändert für mich. Ändern brauche ich dazu bloß meinen Verstand, indem ich ihn künstlich begrenze. Nichts sehen, nichts hören, nichts tun, viel sagen. Fürs Tun sind ja ohnehin die da oben zuständig. Blöd nur, wenn die da oben auf einmal Notwendiges und Überfälliges in die Wege leiten. Da wird schon ein Hauch von Vernunft zum Affront und der Mir-geht’s-zu-gut-Bürger mutiert zum trotzenden Wutbürger und wählt stramm rechts. Originalzitat aus dem Bekanntenkreis: „Also wenn hier bald jeder so‘n Solarpanel am Balkon hängen hat – das will ich nicht sehen!“ Wie gut geht es uns eigentlich?
Massentauglicher Wahnsinn
Wird es unbequem in der Komfortzone, weichen moralische Grenzen auf. Aus dem zahmen Wohlstandswesen eitert plötzlich Zorn und Geifer. „Die Beherrschung der Natur, die Zeit und Raum überwindende Technik und die Lebensbedingungen, unter denen wir unseren Existenzkampf durchführen müssen, drohen unsere gemüthaften Seiten immer mehr verkümmern zu lassen, sodass wir von einem Schizoidisierungsprozess der westlichen Gesellschaft sprechen können.“ Das schrieb der Psychoanalytiker Fritz Riemann 1961 in seinem Buch „Grundformen der Angst“. Darin befasst sich Riemann auch mit der „schizoiden Persönlichkeit“, der er unter anderem folgende Symptome attestiert: ein (ursprünglich von Konrad Lorenz bei Tieren beobachtetes) Phänomen, wonach der Schizoide aggressiv reagiert, sobald jemand seine Reviergrenze übertritt; die Reduktion der Ausdrucksmöglichkeiten in schwarz und weiß, in stark und schwach – wobei die schwach sind, die sich der Moral verpflichtet sehen; der Rückzug in eine irreale, heile Welt bis hin zum nicht mehr korrigierbarem Wahnsystem. Soweit bekannt, soweit so gruselig. Und es scheint, als hätten manche Politiker:innen und Populist:innen das Buch aufmerksam studiert und sich darauf spezialisiert, die genannten Symptome massentauglich zu befeuern.
Wie schizoid ist unsere Gesellschaft bereits? Zeit, unsere Grenzen zu korrigieren.
GRENZVERLETZUNG - Aktiv im Thema
proasyl.de | Die 1986 gegründete, in Frankfurt a.M. ansässige Organisation Pro Asyl setzt sich für die Rechte von Flüchtlingen ein und recherchiert Menschenrechtsverletzungen.
mediendienst-integration.de/artikel/eine-sogwirkung-konnte-nicht-nachgewiesen-werden.html | Der Beitrag erklärt, warum die Behauptung, staatliche Sozialleistungen zögen viele Flüchtlinge und Migranten nach Deutschland, falsch ist.
dw.com/de/faktencheck-f%C3%BChrt-seenotrettung-zu-mehr-fl%C3%BCchtlingen-und-migranten/a-57759340 | Der Beitrag erklärt, warum die Behauptung, zivile Seenotrettung fördere Flucht und Migration, falsch ist.
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