Die Wiener Regisseurin Jessica Hausner, Jahrgang ’72, gewann bereits mit ihrem Diplomfilm „Interview“ 1999 in Cannes den Prix du Jury der Cinéfondation. Gemeinsam mit Barbara Albert („Böse Zellen“) u.a gründete sie die Produktionsfirma Coop99. Nach „Lovely Rita“ und „Hotel“ ist „Lourdes“ ihr dritter Kinofilm.
trailer: Frau Hausner, würden Sie zustimmen, dass die Haltung des Films gegenüber den Geschehnissen und den Protagonisten überwiegend kühl und distanziert ist?
Jessica Hausner: Das sind sehr subjektive Einschätzungen, was jemand als kühl empfindet oder als distanziert. Meine Absicht lag darin, den Geschehnissen als Beobachter zu folgen, der nicht versucht, eine einseitige Interpretation in das Gezeigte hineinzulegen, sondern im Gegenteil Raum für die Widersprüchlichkeiten zulässt. Mich hat die Ambivalenz eines Wunders interessiert. Was für den einen ein Glück ist, mag für den anderen ungerecht sein. Es handelt sich also vielleicht um eine nachdenkliche Distanz zum Geschehen, die etwas Raum lässt für Fragestellungen, die aber sehr wohl mit Empathie für die Protagonisten erfüllt ist.
Es gibt allzu menschliche Reaktionen von Neid und Egoismus, die sie neben sehr kurze Augenblicke von Wärme und Fürsorge stellen. Ist Letzteres in der Kirche mindestens so rar wie anderswo?
Jeder möchte 'geheilt' werden. Im übertragenen Sinn: Das Streben nach Erfüllung und Glück im Leben ist jedem einzelnen Menschen bekannt. Es wäre naiv zu behaupten, dass irgendjemand gerne darauf verzichten würde. Das erzählt mein Film. Nicht mehr und nicht weniger.
Die organisatorischen und bürokratischen Prozesse der Pilgerreise wirken oft unfreiwillig komisch in dem religiösen Umfeld. Sie betonen diesen Kontrast im Film durch Dialog und Bild, was zu einem spöttischen Tonfall führt ...
Der Film sucht einen unsentimentalen Tonfall, um den Kontrast zwischen einem ersehnten Beschützer namens Gott und der vielschichtigen, teils banalen, teils wundersamen Realität zu erzählen. Die erfahrbare Realität hält für jeden Menschen etwas anderes bereit. Für manche ist es Gott, für andere der Zufall, der die Geschicke lenkt. Für mich geht es darum, dass die Wirklichkeit ein Sammelsurium an allem Möglichen und jede Weltanschauung ein menschlicher Versuch ist, den an sich bedeutungsarmen Dingen Bedeutung und Sinn abzuringen.
Überrascht Sie die überwiegend positive Reaktion auf den Film von Seiten der katholischen Kirche?
Für mich steht sie im Zusammenhang mit der positiven Reaktion der Atheisten! Nur dann funktioniert dieser Film, wenn er unterschiedliche Lager gleichermaßen überzeugt. Es ging mir genau darum, diesen Film auf einer allgemeineren Ebene lesbar zu machen, die quasi über der Parteilichkeit irgendwelcher weltanschaulicher Lager steht. Der Film ist als Parabel zu lesen für den allgemeinmenschlichen Wunsch nach einem erfüllten, sinnvollen Leben im Gegensatz zu einem ungerechten, willkürlichen und manchmal grausamen Schicksal.
Es gibt sehr weise Sätze im Film – während der Beichte, nach dem Wunder. Würden Sie diese Sätze eher religiös oder philosophisch nennen?
Eher: ein guter Dialog.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Die Geschichte ist jetzt unfassbar aktuell“
Regisseur Andreas Dresen über „In Liebe, Eure Hilde“ – Gespräch zum Film 10/24
„Es geht um Geld, Gerechtigkeit und Gemeinschaft“
Regisseurin Natja Brunckhorst über „Zwei zu eins“ – Gespräch zum Film 07/24
„Alles ist heute deutlich komplizierter geworden“
Julien Hervé über „Oh la la – Wer ahnt denn sowas?“ – Gespräch zum Film 03/24
„Versagen ist etwas sehr Schönes“
Regisseur Taika Waititi über „Next Goal Wins“ – Gespräch zum Film 01/24
„Ich muss an das glauben, was ich filme“
Denis Imbert über „Auf dem Weg“ – Gespräch zum Film 12/23
„Bei Schule können wir nicht einfach etwas behaupten“
3 Fragen an Johannes Duncker, Drehbuchautor von „Das Lehrerzimmer“ – Gespräch zum Film 04/23
„Ich hatte bei diesem Film enorm viel Glück“
Tarik Saleh über „Die Kairo Verschwörung“ – Gespräch zum Film 04/23
„Ich wollte das damalige Leben erfahrbar machen“
Maggie Peren über „Der Passfälscher“ – Gespräch zum Film 10/22
„Ich wollte das Geheimnis seiner Kunst ergründen“
Regina Schilling über „Igor Levit – No Fear“ – Gespräch zum Film 10/22
„Migration wird uns noch lange beschäftigen“
Louis-Julien Petit über „Die Küchenbrigade“ – Gespräch zum Film 09/22
„Die Wüste ist ein dritter Charakter im Film“
Stefan Sarazin über „Nicht ganz koscher – Eine göttliche Komödie“ – Gespräch zum Film 08/22
„Diese Generationenkonflikte kennen viele“
Katharina Marie Schubert über „Das Mädchen mit den goldenen Händen“ – Gespräch zum Film 02/22
„In der Geschichte geht es um Machtverhältnisse“
Bettina Oberli über „Wanda, mein Wunder“ – Gespräch zum Film 01/22
„Wir wollten kein langweiliges Biopic machen“
Regisseur Andreas Kleinert über „Lieber Thomas“ – Gespräch zum Film 11/21
„Gustave Eiffel war seiner Zeit voraus“
Martin Bourboulon über „Eiffel in Love“ – Gespräch zum Film 11/21
„Richtiges Thema zur richtigen Zeit“
Sönke Wortmann über „Contra“ – Gespräch zum Film 10/21
„Wie spricht man mit einem Kind über den Tod?“
Uberto Pasolini über „Nowhere Special“ – Gespräch zum Film 10/21
„Seine Kreativität lag lange im Verborgenen“
Sonia Liza Kenterman über „Der Hochzeitsschneider von Athen“ – Gespräch zum Film 09/21
„Du denkst, die Erde bebt“
Regisseurin Anne Zohra Berrached über „Die Welt wird eine andere sein“ – Gespräch zum Film 08/21
„Ich würde so gerne gehen. Aber ich weiß nicht, wohin“
Produzentin Bettina Wente über „Nahschuss“ – Gespräch zum Film 08/21
„Es geht bei Fassbinder um Machtstrukturen“
Oskar Roehler über „Enfant Terrible“ – Gespräch zum Film 10/20
„Familienfilm mit politischer Haltung“
Dani Levy über „Die Känguru-Chroniken“ – Gespräch zum Film 03/20
„Nicht alles erklären“
Patrick Vollrath über „7500“ – Gespräch zum Film 01/20
„Corinna Harfouch ist eine Klasse für sich“
Jan-Ole Gerster über „Lara“ – Gespräch zum Film 11/19
„Der Film brauchte eine Bildgewalt“
Christian Schwochow über „Deutschstunde“ – Gespräch zum Film 10/19