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Tim Kollande (l.) und Marek Firlej geben Lesestoff
Foto: Kevin Vitt

I'm lovin' literature!

15. Dezember 2015

Literaturinitiative „Treibgut“ mit Lesung im Café I Am Love (14.12.) – Literatur 12/15

Treibgut sei heimatlos, heißt es humorvoll, nachdem die im Lokal „Freibad“ geplante Lesung, spontan in das Eiscafé „I Am Love“ verlegt werden musste. Doch Treibgut-Literatur von der Ruhr existiert schon seit über 13 Jahren heimatlos. Und zwar in ständig wechselnden Besetzungen, aus nunmehr über 40 Autoren und aus Liebe zur Literatur. Aus über 50 Lesungen, meistens im Kulturcafè der Ruhr-Uni, wurden bereits zwei Anthologien gefertigt. Im Kampf gegen den literarischen Kulturverfall wird die Initiative durch die „Literarische Gesellschaft Bochum“ sowie durch bekanntere Autoren, z.B. Frank Goosen, unterstützt. Die Synthese aus Bekanntem und Unbekanntem war von Beginn an ein Ziel, so Treibgut-Veteran und Literaturwissenschaftler Ulrich Schröder. trailer-ruhr berichtete erst kürzlich, z.B. über Felicitas Friedrich, die beim letzten Oberhausen-Slam Zweite wurde oder den Lyriker Calvin Kleemann, der heute mit sieben weiteren Künstlern ebenfalls im Ehrenfeld angespült wurde.

Nach einem kurzen Stand-Up der beiden Moderatoren Tim Kollande und Marek Firlej gibt die Studentin und Fantasy-Autorin Caroline Königs den Startschuss. Anhand eines zu dritt gelesenen Dialogs gewährt sie satirische Einblicke in die Absurditäten des Tratsches. Star des Ganzen ist der „galaktische Hund“ Sebastian. „Das Neuste“ sei, so munkelt man, dass dieser so intergalaktisch gut sei, dass sein Frauchen sogar ihren Mann verlassen habe, um eine Beziehung mit Sebastian zu beginnen. Ein Priester, ein Fitnesstrainer und ein Fleischverkäufer besprechen das Gerücht. Die totale Vermenschlichung des Tieres, bis hin zur Liebschaft, erscheint den Dreien keineswegs abstrus: „Was das für ein toller Hund sein müsse“, wird spekuliert und so reden sie nicht nur aneinander, sondern auch völlig an der Realität vorbei.

Für die Musik ist „Herr Tapete“ aus Hamm angereist. Er betritt im Anschluss mit seiner Gitarre die Bühne. Sein Stil wirkt leicht improvisiert. Augenzwinkernd spricht der Musiker und Chirurg von „melancholustigen Liedern“. Es passt zum Abend: Liebe, Sehnsucht und Weltschmerz, in teils surrealistischen, teils urkomischen Metaphern.

Danach erhebt „Ruhrpiranha“ Ulrich Schröder die Stimme. Der Autor seiner gleichnamigen „Metropolensatire“, liest zwei prosaische Texte des Romans. Im Angesicht des „dystopischen“ Bochumer Konzerthauses, das inzwischen 40 Millionen Euro koste, prangert er in „Fidelbuden statt Literaturhaus“ die mangelhafte Förderung von Literatur und Satire an. Der zweite Text kommt lockerer, aber nicht weniger boshaft daher: Der dauerarbeitslose Egon Kranz, eine Romanfigur, besucht am Campus der Zukunft die Messe „Inactiva“, der die Erzählung auch den Titel verdankt. Unter dem Motto „Wir gestalten ihre Träume“, bemüht Egon sich um eine Festanstellung als Dauerschläfer. Durch modernste Technik kann er sich zusätzlich im Traum beobachten, was aber zu einer gefährlichen Doppelbelastung für den ohnehin schon so müden Studenten führt. Die aberwitzige Erzählung weist einige Sozialkritik auf.

Der Campus wird später auch bei Philipp Dorok aus Kamen Thema. In weihnachtlicher Manier lässt der Linguist und Satiriker den maroden Plattenbau seiner Uni literarisch mit Lebkuchen sanieren. Der große Aufwand nützt der Uni natürlich nichts: Die Studenten essen sich satt und alles beginnt wieder von vorne. Falsch gesetzte Prioritäten und elitäre Verschwendungspolitik werden so von Dorok aufs Korn genommen. Er liest noch mehrere Kurzgedichte und Sinnsprüche vor, die er gekonnt mit Wortspielen spickt und die leicht an den Stil Wilhelm Buschs erinnern. Da wird Bochum zu „Malochum“ oder das Audimax zum „Gaudimax“. Seine Botschaften sind kritisch und klar: Weniger Konsumwahn, Wohlstandsmentalität und Reizüberflutung. Dafür mehr Dankbarkeit, Zufriedenheit und Herzlichkeit.    

Das Highlight der Lesung bietet der erst 22-jährige Calvin Kleemann. Sein großes Thema ist der „Gegenwartsschock und Narration-Kollaps“; die Verarbeitung von großen Fragen des modernen menschlichen Daseins in einer Welt, in der alles nur schneller und virtueller wird. Der Lyriker hat schon über acht Jahre Bühnenerfahrung und seine Passion ist spürbar. Lautstark und leidenschaftlich knallt er an diesem Abend durch drei seiner Texte, die allesamt hochkomplex sind, aber dennoch frei vorgetragen werden. Er nennt das „Wortkonzerte“. Im ersten Text „Die graue Flut“ verlässt das lyrische Ich den geliebten Wald in Richtung einer grauen Skyline. „Was trieb mich an, aus dieser Wunderwelt zu fliehen?“, lautet die verzweifelte Frage, die sich stellt, als alles immer grauer und grauer wird. Kleemanns zweiter Text „Im Glanze des Siliziums“ kennt die Antwort: Die graue Flut tarnt sich. Unsichtbare Verkabelung, Realitätsverlust durch Realitätsüberschuss und Bedeutungsverlust von allem, was nicht gegenwärtig ist, sorgen für Verblendung. Die graue Flut, ein „lippenlos lächelndes“ Monster. Das alles führt im dritten Text zwangsläufig zum Niedergang der Kunst. Alles erscheint nur noch farblos. Alle sind zusammen und doch allein. Alles nur noch eine Farce, ein „gesprochener Stummfilm“, wie Kleemann sagt.

Am Ende kommen auch nochmal die Moderatoren Kollande und Firlej zum lyrischen Zug. Jeder liest ein Gedicht vor. Die beiden wirken wie die literarische Version von Nikolaus und Knecht Ruprecht, denn während Firley provokativ den alljährlichen Konsumwahn und die familiäre Heuchelei verurteilt, sorgte Kollande für warm-weihnachtliche Abschlussgefühle. „Besinnlich bleiben statt in den Wahnsinn treiben“, so der letzte Vers, welcher die Gäste nun festlich nach Hause tragen soll. „Auch in der Literatur hegt und trägt einer den anderen […]“, sagte einst Goethe – die engagierten und talentierten AutorInnen von „Treibgut“ werden dazu wohl kaum „Fuck you“ sagen und treiben zusammen ans nächste Ufer.

Kevin Vitt

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