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Kinder an die Macht
Foto: Melanie Redlberger

Von Kniebeißern und Zaubermäusen

28. September 2017

Vertrauensvoll aufeinander zukrabbeln. Auch, wenn auf dem Spielplatz schonmal ein Stock geschwungen wird – Thema 10/17 Kinderseelen

Hach nee, was sind die Kleinen süß. So große Augen. So unschuldig und lieb. Sieht man ja schon in den Facebook-Videos. Das geht steil viral bei uns digitalen Emotionsjunkies: Wie die Jüngsten gern anderen helfen, wie sie voller Unschuld die Hälfte ihrer Schokolade verschenken, hach ja, in dem Alter sind die Menschen noch gut. Wusste schon Novalis: Wo Kinder sind, da ist ein goldnes Zeitalter, schrieb er, der Frühromantiker, der selbst keine Kinder hatte. Nichts lässt sich besser idealisieren als dieser Zustand vor jeglicher Entfremdung, wo der kleine Mensch als Naturwesen noch ganzheitlich, spontan und schöpferisch in Harmonie lebt. Eine antirationalistische Verklärung des instinkthaften Lebens, das macht sich vor allem in Berlin-Mitte gut, wo die Kleinen juchzend die Sojalattes von den Naturholztischen kegeln. Aber kein Eltern-Bashing jetzt, Mama und Papa und Mama und Mama und Papa und Papa können ja nichts dafür, stehen sie doch in schönster bürgerlicher Tradition, erfüllen sie doch nur die Ideale deutscher Geistesgeschichte: je freier lassend die Erziehung, desto wahrer das Kind, schrieb Jean Paul 1806 in seiner viel gelesenen „Erziehlehre“.

Und falls so ein Kind tatsächlich sein soziales Gewissen entdeckt und in der 5. Klasse unbedingt in der großen Pause Eis verkaufen will, um Spendengelder für den Regenwald zu sammeln – prima, es wird sich schon ein Eiskonzern finden, der dafür den Kühlschrank mit Werbeaufdruck sponsert. Dass dieser Konzern dann Palmöl für's Eis verwendet und somit für die Zerstörung des Regenwaldes mitverantwortlich ist – wer wird sich daran schon stören, ist ja für eine gute Sache. Willkommen in der Dialektik des Kapitalismus, der noch aus seinen Widersprüchen Profit schlägt. Das kann man als Jungunternehmer ab der Kniebeißerphase nicht früh genug lernen, während die Eltern derweil von einer Management-Karriere des Nachwuchses bei ebendiesem Eiskonzern träumen.

So hat in Deutschland alles seine schöne Ordnung. Die einen werden mittels Babyyoga und Superfood beim Geigenunterricht zu Hochleistungsmaschinen getrimmt, die andern mit Zucker und Kinderapps auf dem Handy in einen befriedeten Dämmerzustand geschaukelt, bis sie nicht mehr nach links oder rechts gucken können. Trotzdem sehen wir Erwachsene im Kleinkind den unzerbrochenen Spiegel. Wir wollen einen Blick erhaschen auf das, was der Mensch sein könnte, würde er nicht gesellschaftlich zugerichtet. Und wenn sich alles um das Kind dreht, bestätigen wir uns damit, dass es neben Verzweckung und Wirtschaftlichkeitswahn noch den sicheren Hafen, den warmen Schoß der Familie gibt – um den zu erhalten, müssen wir uns dann leider wieder für Lohn und Brot verzwecken und verwirtschaften. Willkommen im Hamsterrad.

Und wenn wir uns freikämpfen aus dem Sog der Romantik, uns den hellen Geistern der Aufklärung zuwenden? Alle Kinder sind im Grunde kriminell, schrieb der Skeptiker Denis Diderot, und wer einmal eine halbe Stunde auf einem Spielplatz zubringt, wird ihm vollsten Herzens zustimmen. Vielleicht wäre es ehrlicher zuzugeben, dass wir von Geburt bis Sterbebett Egomanen sind, ausschließlich auf den eigenen Vorteil bedacht, und Kompromisse nur eingehen, weil der Überlebenstrieb des Herdentiers uns dazu rät. Gib einem Kind einen Stock, und es schlägt auf das oder den Nächstbesten ein – es beweist sich, dass es existiert, dass es Einfluss auf sein Umfeld hat. Was es zurück erhält, gibt ihm ein Bild seiner selbst: Ich wirke, also bin ich. Das sagt uns mehr über den Menschen, als das romantische Klischee es wahr haben möchte.

Aber – was ist so falsch daran? Wollen wir nicht alle, verdammt noch mal, wahrgenommen werden? Die eigene Existenz spüren? Geliebt werden, auch wenn wir uns mal so richtig daneben benehmen? Vielleicht versuche ich es demnächst auch. Nein, nicht das Kinderkriegen. Das Andere. Das totale Sein. Einfach schreien so laut ich kann, wenn mir etwas weh tut. Wenn ich etwas will, dies auch absolut und unmissverständlich zu wollen, ohne mich ablenken zu lassen. Vertrauensvoll auf den nächstbesten Menschen zukrabbeln, wenn ich einsam bin. Spielend Dinge verwandeln, nur mit der eigenen Vorstellungskraft, den Holzklotz zum Tier, die Bettdecke zum Dschungelzelt, die Steuererklärung zum Fangenspiel. Und vor allem: laut und mit dem ganzen Körper lachen, bis ich Schluckauf bekomme. Es ist unsere Sehnsucht nach dem Unverstellten und Guten im Menschen, die uns selbst erst zu authentischen und guten Menschen machen kann. Und deshalb stimmen wir nun alle ein in den Kinderchor: Herzlichen Glückwunsch, Sie haben sich soeben selbst geboren. Machen Sie jetzt was Richt'ges draus, Herr und Frau Zaubermaus.


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Melanie Redlberger

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