Ein ungewöhnliches Experiment wagte das Kölner movingtheatre.de: Vier Choreografen inszenierten gemeinsam das Tanztheater „Revolver/Identities“. Wo sonst viele Köche den Brei verderben, gelang hier ein außergewöhnliches Tanztheater für den – um im Bild zu bleiben – Tanz-Gourmet.
Die vier Choreografen Claudi Bombardó Oriol aus Spanien, Karl A. Schneider aus Österreich sowie Massimo Gerardi und Emanuele Soavi vom deutsch-italienischen movingtheatre.de richten einen je spezifischen Blick auf „eine Gesellschaft kurz vor der Explosion“. Die soziale Kälte greift um sich, die gesellschaftlich Ausgestoßenen organisieren sich – Bühne und Wirklichkeit sind sich so nah wie selten. Auf der Bühne wird Styropor schmerzhaft kratzend herum geschoben, beschriftet mit Begriffen, deren Sinn längst verloren ging (Big, Different, Fragile), aufgestellt wie Grabsteine. Während sich eine neue Eiszeit in Form von Styroporplatten unaufhaltsam nähert, feiern die einen noch ausgelassen und sind die anderen auf der Suche nach ihrer Identität im Chaos. Provozierend spielen die Tänzerinnen Iratxe Ansa und Nora Sitges-Sardá mit ihren Reizen, schnurren geschmeidig tanzend in synchroner Eintracht, um sich gleich darauf tanzend-fauchend zu fetzen. Wütend kratzt eine das YOU von der Styroporplatte, für sie zählt das ICH. Die anderen suchen sich selbst, scheinen zwischen die Mahlsteine des gesellschaftlich-politischen Umbruchs zu geraten, finden sich eingesperrt, gefoltert. Hart knallt ein Schemel auf den Boden wie ein Schlag ins Gesicht, der Körper zuckt zusammen. Robert Goodby und Mircea Ghinea tanzen mit gefesselten Händen ein bewegendes Duett zweier Gefangener, voller Angst und doch voll Hoffnung. Einfühlsam schiebt einer seinen Kopf in die Armbeuge des anderen und richtet ihn damit wieder auf. Die großartig ausgespielten Szenen werden von optischen wie akustischen Blackouts oder einem krachenden Revolverknall beendet. Das ist dann der Auftakt einer Hetzjagd aller auf Emanuele Soavi, der als agent provocateur mit beißender Ironie das Geschehen kommentiert. Janusköpfig, mit rollenden Augen am Hinterkopf und verdrehten Füßen, spielt er das personifizierte „Vorwärts, wir gehen zurück“.
Die Inszenierung reiht inhaltlich differente Szenen mit ganz unterschiedlichen tänzerischen Handschriften aneinander. Was auf den ersten Blick disparat wirkt, fügt sich durch eine geschickte Dramaturgie nicht nur erstaunlich gut zusammen, sondern ergänzt sich perfekt wie die zwei Seiten einer Medaille. Das liegt vor allem an der choreografischen Tragfähigkeit jeder einzelnen Szene und an der starken tänzerischen Präsenz der Akteure. „Revolver/Identities“ ist bildgewaltiges politisches Tanztheater. Eine überzeugende Inszenierung, die zum Nach-Denken animiert.
„Revolver/Identities“ | Choreografie: Bombardó Oriol/Gerardi/Schreiner/Soavi | Im November Vorstellungen in Barcelona/Sabadell/Fürth, NRW-Vorstellungen folgen | Infos unter www.movingtheatre.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Im Kreisrund sind alle gleich
4. Ausgabe des Festivals Zeit für Zirkus – Tanz in NRW 11/24
War das ein Abschied?
Sônia Motas „Kein Ende“ in den Kölner Ehrenfeldstudios – Tanz in NRW 10/24
Supergau?
Die TanzFaktur steht wieder einmal vor dem Aus – Tanz in NRW 09/24
Kaffee, Kuchen, Stacheldraht
12. Tanz.Tausch Festival in der Kölner TanzFaktur – Tanz in NRW 08/24
Wunderbar: alles ohne Plan
„Leise schäumt das Jetzt“ in der Alten Feuerwache – Tanz in NRW 07/24
Vor der Selbstverzwergung
Ausstellung zu den „Goldenen Jahren“ des Tanzes in Köln – Tanz in NRW 06/24
Philosophie statt Nostalgie
Das Circus Dance Festival in Köln – Tanz in NRW 05/24
Das Unsichtbare sichtbar machen
Choreographin Yoshie Shibahara ahnt das Ende nahen – Tanz in NRW 04/24
Tennismatch der Kühe
„Mata Dora“ in Köln und Bonn – Tanz in NRW 03/24
Kommt die Zeit der Uniformen?
Reut Shemesh zeigt politisch relevante Choreographien – Tanz in NRW 02/24
Am Ende ist es Kunst
Mijin Kim bereichert Kölns Tanzszene – Tanz in NRW 01/24
Eine Sprache für Objekte
Bundesweites Festival Zeit für Zirkus 2023 – Tanz in NRW 11/23
Die Sprache der Bewegung
Die Comedia lockt das junge Publikum zum Tanz – Tanz in NRW 10/23
Kinshasa und Köln
„absence#4“ im Barnes Crossing – Tanz in NRW 09/23
Tänzerinnen als „bad feminist“
tanz.tausch in Köln – Tanz in NRW 08/23
Den Blick weiten
Internationales Tanz-Netzwerk Studiotrade – Tanz in NRW 07/23
Visionen, Mut und Fleiß
Rund zehn Jahre Kölner Tanzfaktur – Tanz in NRW 06/23
Dialoge der Körper
SoloDuo Tanzfestival in Köln – Tanz in NRW 05/23
Das überraschende Moment
Bühnenbildner miegL und seine Handschrift – Tanz in NRW 04/23
Gesellschaftlicher Seismograph
8. Internationales Bonner Tanzsolofestival – Tanz in NRW 03/23
Akustischer Raum für den Tanz
Jörg Ritzenhoff verändert die Tanzwahrnehmung – Tanz in NRW 02/23
Kann KI Kunst?
Experimente von Choreografin Julia Riera – Tanz in NRW 01/23
Wie geht es weiter?
Mechtild Tellmann schaut auf Zukunft des Tanzes – Tanz in NRW 12/22
Der Zirkus verwandelt die Welt
„Zeit für Zirkus“ - Festival in NRW – Tanz in NRW 11/22
Reflexion oder Reaktion?
Urbäng! Festival mit Sonderausgabe zur Ukraine – Festival 10/22