Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
23 24 25 26 27 28 29
30 31 1 2 3 4 5

12.583 Beiträge zu
3.812 Filmen im Forum

Als Kaffee noch sitzend getrunken wurde
Foto: Dangubic / Adobe Stock

Willkommen in der Komfortmüllzone

01. Januar 2022

Alternativen zur Wegwerfkultur – Teil 1: Leitartikel

Der Deutsche an sich liebt es nice and tidy, und erst recht bei Speis und Trank, denn er mag sein Essen gern hygienisch drapiert. Bonbon für Bonbon, Praline für Praline. Und Größeres, was nicht auf einmal in den Mund geht, reicht man ihm zusätzlich häppchenweise einzelportioniert dar, von Mars Mixed Minis bis zur Kaffeekapsel. Das ist Irrsinn, aber Standard. Zugleich sieht sich der Deutsche in Sachen grüner Daumen ganz weit vorne. Also, zumindest in der ungetrübten Selbstwahrnehmung. Und das gute Gewissen kommt, wie so vieles, nicht von irgendwoher. Während die Industrie uns auf Überfluss und Darreichungsvielfalt abrichtet, trachtet die Regierung danach, unser gutes Gewissen zu wahren. Allerdings nicht, indem sie unvernünftige Verpackerei unterbindet. Nein, viel lieber stellt der liberale Staat dem Bürger bunte Plastiktonnen vor die Haustür – in gelb, in blau, in braun. Schließlich tut der Bürger dann was für die Umwelt. Noch besser: Wer Müll recycelt, muss ihn nicht vermeiden. Das funktioniert ja auch mit sogenannten CO2-Kompensationen für Flugreisen beim Klima prima. Der saubere Deutsche vermeidet nicht, er kauft sich frei oder recycelt. Nice and tidy.

Das Laster der Bequemlichkeit

Alles andere würde ja heißen, uns liebgewonnener Gewohnheiten zu berauben. Und wir haben uns an vieles gewöhnt in jüngster Zeit. Man stelle sich nur mal vor, es gäbe keinen Coffee to go mehr! Absolutes No-Go, erleichtert so ein Coffee to go der Menschheit doch so, äh – ja, so viel! Über 300.000 Einwegbecher pro Tag in Deutschland – das sagt schon alles und lässt sich nicht einfach wegdenken. Genauso wenig wie die 3,4 Milliarden Kaffeekapseln, die der Deutsche 2019 in seinen Komfortmüll entsorgte. Nun, das alles hat früher kein Mensch gebraucht, und auch da waren wir schon große Kaffeetrinker. Dann aber kam der Wegwerfbecher: Erstmal ungewöhnlich, wurde das Ungewohnte angewöhnt. Und eine neue Gewohnheit, die eine Erleichterung darstellt, gewöhnt man sich ungern ab. Außerdem ist das ja so etwas wie Freiheit, und Freiheit ist Grundrecht: Mein Recht auf Müll!

Wege aus der Wegwerfkultur

Deutschland zählt in der EU zu den fünf Topproduzenten von Plastikmüll. Nicht nur die Tier- und Pflanzenwelt der Ozeane verreckt daran, Mikroplastik sickert längst durch unsere Blutbahnen. Wir wissen das, nie war uns unser Handeln so gewahr – und doch knallen wir weiter sekündlich Coffee to go-Becher in die Tonne. Zugleich aber gibt es engagierte, konstruktive Ansätze und Chancen. Repair-Cafés bieten Werkstatt, Gerät und Hilfe an, wenn man mal aus der Wegwerfkultur ausbrechen möchte. Deutschlandweit gibt es bereits etwa 500 Initiativen, die überwiegend unter dem Netzwerk Reparatur-Initiativen vereint sind. Woanders versucht man sich statt am REcycling am UPcycling und gewinnt dabei Tassen aus Kaffeesatz, Windlichter aus Tetra Paks oder Haargummis aus Nylonstrumpfhosen.

Auch für den Coffee to go gäbe es Lösungsmöglichkeiten, z.B. über ein Pfandsystem. Und wenn ich unterwegs spontan einen Kaffee haben will und meinen Pfandbecher nicht dabeihabe? Dann setz’ ich mich halt ins Café: Der neueste Shit – Coffee to sit! Oder es gibt dann eben einfach mal keinen Kaffee auf die Hand. Dann gibt es eben nicht immer und überall alles, was ich gerade haben will. Müllvermeidung bedeutet Umgewöhnung. Entbequemisierung. Das Verlassen der Komfortmüllzone. Das wiederum verlangt Steuerung von oben. Tempolimit, Einwegstopp: Die Ampelkoalition könnte jetzt viel voranbringen – bis zur nächsten Bundestagswahl hätten wir uns längst daran gewöhnt.


VERBRANNTES GUT - Aktiv im Thema

kaisern.de/repair-und-naeh-cafe | Offenes Repair- und Upcycling-Café im Dortmunder Kaiserviertel.
leihladen-bochum.de | Der Bochumer Leihladen verleiht von Werkzeug bis zu Spielen alles kostenlos und mit individuellen Fristen.
reparatur-initiativen.de | Die Initiative versammelt Infos zu Repair-Cafés, Lokalgruppen und Workshops.

Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de

Hartmut Ernst

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Heretic

Lesen Sie dazu auch:

Verbranntes Gut

Zum Müll mit guten Vorsätzen
Intro – Verbranntes Gut

„Müllvermeidung nicht auf Verbraucherinnen und Verbraucher abwälzen“
Elena Schägg von der Deutschen Umwelthilfe über Upcycling, Recycling und Müllvermeidung – Teil 1: Interview

Auf den Ruinen der Konsumgesellschaft
Die nachhaltige Werkstatt „Tanz auf Ruinen“ in Dortmund – Teil 1: Lokale Initiativen

Kleider aus Milchfasern
Neue Möglichkeiten der Nachhaltigkeit – Teil 2: Leitartikel

„Menschen können Nützlinge sein“
Isabel Gomez von Cradle to Cradle e.V. über Ökostoffe und Kreislaufwirtschaft – Teil 2: Interview

Aus Alt mach Neu
Hilfe zur Selbsthilfe: Das Reparatur-Café in Wuppertal-Heckinghausen – Teil 2: Lokale Initiativen

Die deutsche Müllflut
Deutschland ist Spitzenreiter bei der Produktion von Verpackungsmüll – Teil 3: Leitartikel

„Es geht wirklich nur um Verpackungen“
Axel Subklew von der Initiative „Mülltrennung wirkt“ über die dualen Systeme – Teil 3: Interview

Weniger Müll ist auch eine Lösung
Zero Waste bald auch in Köln? – Teil 3: Lokale Initiativen

Meilenstein Richtung Zero Waste
In Slowenien steht die modernste Müllverwertungsanlage Europas – Vorbild Slowenien

Plastik-Perversion
Die verheerenden Auswirkungen des Plastikproblems – Glosse

Leitartikel

HINWEIS