Sieben von zehn Politiker:innen mit den höchsten Social Media-Ausgaben in Europa stammen aus Belgien. Hierbei handelt es sich aus belgischer Perspektive keineswegs um einen Fun Fact am Rande, sondern um ein grundsätzliches Problem. Denn die Tatsache, dass belgische Parteien 2022 eine Rekordsumme von fünf Millionen Euro in Werbung auf Youtube, Instagram und Twitter investierten, ist auf die hohen Subventionen, die sie vom Staat erhalten, zurückzuführen. Im Verhältnis zu ihrer Wählerzahl erhalten die Parteien doppelt so viel Steuergelder wie in Deutschland – 160 Millionen Euro im Jahr, wenn man die vom Parlament bezahlten Fraktionsmitarbeiter hinzurechnet. Das ursprüngliche Ziel dieser Finanzmittel war der Kampf gegen die Korruption durch die Unabhängigkeit der Parteien von Firmenspenden, doch aufgrund mangelnder Transparenz und der Voraussetzung vieler Mandate für hohe Geldsummen hat sich aus einer Chance ein Risiko für die Demokratie entwickelt. Die aufwendigen Social Media-Kampagnen sind zum Symptom einer Politik geworden, in der der Wahlkampf eine übergeordnete Rolle spielt. Doch der Wille zur Veränderung ist da: Im Koalitionsvertrag der amtierenden Regierung De Croo ist eine Reform der Parteienfinanzierung vorgesehen – eine parlamentarische Einigung gab es bislang allerdings nicht.
Schwung in die Debatte bringen
Nun kann Uneinigkeit produktiv für eine Demokratie sein, indem sie Bürger:innen zur Diskussion und zur Partizipation an politischen Prozessen anregt. So nutzte die Bürgerplattform G1000 die Unzufriedenheit der Bevölkerung, um Schwung in die festgefahrene Debatte zu bringen. Unter dem Motto „We need to talk“ konnten sich alle Belgier:innen online zu Reformvorschlägen positionieren. Auf der Basis dieses Meinungsbildes tagte von März bis Mai 2023 ein aus sechzig zufällig gelosten Personen zusammengesetzter Bürgerrat. Die rund dreißig Empfehlungen, die sich auf der dreiwöchigen Tagung herausgebildet haben, geben einen klaren Ton vor: Zwar solle jede Partei unabhängig von ihrer Größe über ausreichend Geld verfügen, um ihre Wählerschaft vertreten zu können. Doch dafür brauche es klare Regeln, eine Obergrenze sowie vor allem Transparenz durch die Listung der Ein- und Ausgaben auf einer Online-Plattform und eine externe Prüfung der Parteikonten. Sobald der Bürgerrat seinen Abschlussbericht vorgelegt hat, ist das Parlament auf die Probe gestellt. Nimmt es die Ideen ernst, könnte die Krise zur Chance werden.
Demokratisch innovativ
Auch außerhalb von Belgien werden Bürgerräte populärer. Gerade durch den Brexit ist in Europa das Vertrauen in Referenden geschwunden. Selbst im Grundsatzprogramm von Bündnis 90/Die Grünen taucht die Forderung nach direktdemokratischer Beteiligung nicht mehr auf, obwohl sie vierzig Jahre lang zum Parteiprofil gehörte. Auch in den USA hat die Sorge vor einer weiteren politischen Spaltung dazu geführt, in den Bundesstaaten Referenden tendenziell durch Bürgerräte zu ersetzen. Es entstehen Mikro-Öffentlichkeiten, die den Anspruch haben, repräsentativ für die Gesellschaft zu sein – Experimente der Partizipation. Das Risiko, folgenschweren Entscheidungen aufgrund von Desinformationen und Kampagnen zu fällen, ist gegenüber Referenden oder Volksinitiativen wesentlich verringert. Denn Bürgerräte werden von Expert:innen begleitet und haben nur beratende Funktion. Auch in Deutschland etablieren sich zahlreiche Bürgerräte.
NACH DER DEMOKRATIE - Aktiv im Thema
democracy-international.org/de | Der in Köln ansässige Verein Democracy International vernetzt Menschen, die sich für mehr Demokratie und Mitbestimmung einsetzen.
netzwerk-courage.de | Das Netzwerk für Demokratie und Courage „lebt vom Engagement vieler junger Menschen, die sich für Demokratieförderung und gegen menschenverachtendes Denken einsetzen“.
dwenteignen.de | Die Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen informiert über ihr Anliegen (s.a. Seite 7 in diesem Heft).
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@trailer-ruhr.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Politik mit Vorsatz
Intro – Nach der Demokratie
Demokratische Demut, bitte!
Teil 1: Leitartikel – In Berlin versucht der Senat, einen eindeutigen Volksentscheid zu sabotieren
„In ihrer jetzigen Form hat Demokratie keine Zukunft“
Teil 1: Interview – Soziologe Robert Jende über eine Politik jenseits von Parteizugehörigkeit
Ein Kiez gegen Rechts
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Quartiersdemokraten in Dortmund-Dorstfeld
Bröckelndes Fundament
Teil 2: Leitartikel – Was in Demokratien schief läuft
„Problematisch, wenn sich Kritik auf Demokratie an sich richtet“
Teil 2: Interview – Politikwissenschaftler Sven T. Siefken über den Zustand der Demokratie
Meine Stimme zählt
Teil 2: Lokale Initiativen – Der Outline e.V. in Köln-Chorweiler
Wem glauben wir?
Teil 3: Leitartikel – Von der Freiheit der Medien und ihres Publikums
„Viele Menschen haben das Gefühl, sie werden nicht gehört“
Teil 3: Interview – Medienforscherin Dorothée Hefner über Vertrauen in politische Berichterstattung
Für eine neue Öffentlichkeit
Teil 3: Lokale Initiativen – Die Mobile Oase in Wuppertal-Oberbarmen
Staatsmacht Schicht im Schacht
Mögen Körperflüssigkeiten den Parlamentarismus retten – Glosse
Das Recht jedes Menschen
Die Flüchtlings-NGO Aditus Foundation auf Malta – Europa-Vorbild Malta
Unglaublich, aber essbar
Todmorden und die Idee der „essbaren Stadt“ – Europa-Vorbild England
Spielglück ohne Glücksspiel
Gegen teure Belohnungen in Videospielen – Europa-Vorbild: Belgien
Soziale Energiewende
Klimaschutz in Bürgerhand: Das Energy Sharing – Europa-Vorbild: Österreich
Exorzismus der Geisternetze
Bekämpfung von illegaler und undokumentierter Fischerei – Europa-Vorbild: Italien
Fessel für die Freiheit
Elektronische Fußfessel für häusliche Gewalttäter – Europa-Vorbild: Spanien
Grasen für die Natur
Wisente in den Karpaten schützen Klima und Artenvielfalt – Europa-Vorbild Rumänien
Zurück in die Freiheit
Geringe Rückfallquote bei Strafgefangenen – Europa-Vorbild Norwegen
Bildung für mehr Miteinander
Pflichtfach Empathie – Europa-Vorbild Dänemark
Soziale Bakterien
Den Ursprüngen sozialer Phobien auf der Spur – Europa-Vorbild: Irland
Ungefilterte Schönheit
Regeln für Influencer – Europa-Vorbild: Frankreich
Alltag ohne Hindernisse
Städtische Barrierefreiheit – Europa-Vorbild Schweden
Konzern in Arbeiterhand
Die Industriegenossenschaft Mondragón – Europa-Vorbild: Spanien
Menschenrecht gegen Polizeikontrolle
Die Allianz gegen Racial Profiling – Europa-Vorbild: Schweiz