In den USA hat die Methode Tradition: Ehe man ein Musical in New York herausbringt, testet man es in der „Provinz“. Dann schreibt man es gegebenenfalls noch mal um oder verzichtet bei mangelndem Publikumszuspruch ganz auf den Sprung an den Broadway. Nun hatte auch die Essener Folkwang-Uni eine dieser Tryout-Premieren: „Goethe! Auf Liebe und Tod“ von Martin Lingnau (Musik), Gil Mehmert (Buch) und Frank Ramond (Liedtexte). Vermutlich weil die Stage Entertainment mit im Produzenten-Boot saß und mal sehen wollte, ob nach dem vom gleichen Team kreierten „Das Wunder von Bern“ hier wieder ein Musical entstanden ist, dem man den Sprung auf die große Bühne zutraut. Deshalb haben sie wohl auch zwei ihrer Stars nach Essen ausgeliehen: Sabrina Weckerlin, die gerade in Oberhausen in „Tarzan“ auf der Bühne steht und Philipp Büttner aus dem „Alladin“-Cast in Hamburg.
Sie spielen das Liebespaar Lotte und Johann Wolfgang, das im Mittelpunkt des Musicals steht, das wiederum auf Philipp Stölzls Film „Goethe!“ aus dem Jahr 2010 beruht. Es gibt zwar kein Happyend für die beiden, weil Lotte den sicheren Ehehafen mit Johanns Vorgesetzten wählt. Aber aus Goethes Liebesleid entsteht dann sein literarischer Durchbruch: „Die Leiden des jungen Werther“.
Martin Lingnau, der so fetzige Musicals wie „Swinging St. Pauli“ geschrieben hat, versucht sich hier an einem durchkomponierten Stück à la Lloyd Webber – und verliert dabei etwas die Leichtigkeit. Was durch die allzu Percussion- und Keyboard-lastigen Arrangements seiner rockigen Pop-Nummern noch verstärkt wird. Und durch das unprofessionelle Sounddesign zum Ärgernis wird, wenn das Orchester Stimmen und Texte schluckt. Sabrina Weckerlin befreit sich noch mit Können und Routine aus dieser Soundfalle, aber Philipp Büttner kann dem nur seine gequetscht wirkende Beltstimme entgegensetzen, die ihn im Liebesduett mit Lotte dann völlig abschmieren lässt. Auch schauspielerisch wird er von seinem Bühnen-Busenfreund Wilhelm (Florian Minnerop) ausgestochen, sodass man sich zur „Halbzeit“ eigentlich einen Rollenwechsel der beiden wünscht. Ansonsten führt Folkwang-Professor Gil Mehmert, im Nebenberuf einer unserer profiliertesten Musical-Regisseure, das Ensemble mit sicherer Hand durch das von Simon Eihenberger hübsch choreografierte und von Eva-Maria van Acker und Maria Wolgast liebevoll ausgestattete Stück. Nur: Etwas weniger Bühnennebel wäre mehr gewesen!
Auch der Versuch des Dortmunder Theaters, der Paul Abrahams Operette „Die Blume von Hawaii“ neue (jazzige) Reize abzugewinnen, scheitert vor allem am Soundmix, bei dem man sich fragt, warum die Darsteller überhaupt Microports tragen, wenn diese gar nicht akustisch zur Geltung kommen. Zudem nimmt die Besetzung der beiden Hauptrollen mit Opernkräften (Marc Horus, Emily Newton) der Inszenierung jenen Schwung, den nur der Musical-erprobte Gaines Hall als steppender Show-Master andeutet. Aber auch hier gibt es immerhin was für Auge: Totos Bühnenbild und Kostüme.
„Goethe! Auf Liebe und Tod“ | R: Gil Mehmert | keine weiteren Termine | Folkwang Universität, Essen
„Die Blume von Hawaii“ | R: Thomas Enzinger | 5., 26.5. 19.30 Uhr | Opernhaus Dortmund | 0231 502 72 22
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Zwischen Musical und Komödienstadl
„Bikini Skandal“ an der Kölner Volksbühne – Musical in NRW 08/24
„Das ist fast schon eine Satire“
Alexander Becker inszeniert „Die Piraten von Penzance“ am Opernhaus Dortmund – Premiere 07/24
Der Ring und ein schwarzer Berg
Wagner-Kosmos in Dortmund zu „Mythos und Wahrheit“ – Oper 05/24
Tanz mit einer toxischen Zwiebel
„Peer Gynt“ am Opernhaus Dortmund – Auftritt 03/23
Reigen aus Lügen
„Peer Gynt“ am Opernhaus Dortmund – Tanz an der Ruhr 01/23
Zwischen Kaffeebud und Puff
Karnevaleskes Musical im Kölner Scala Theater – Musical in NRW 10/17
No Business Like Show Business
Musicals unter freiem Himmel – Musical in NRW 07/17
Erleben statt verstehen
„Einstein on the Beach“ von Philip Glass in Dortmund – Oper in NRW 06/17
Tanz auf dem Vulkan
„Cabaret“ im TiC in Wuppertal – Musical in NRW 06/17
Kultiges auf der Musicalbühne
Andrew Lloyd Webbers „The Beautiful Game“ und Tim Burtons „Big Fish“ – Musical in NRW 04/17
Kultfilme auf der Musicalbühne
„Das Appartement“ in Wuppertal und „Love Story“ in Aachen – Musical in NRW 02/17
Top und Flop
Erstaufführungen: „Imagine This“ und „Barricade“ – Musical in NRW 01/17
Die Seele geraubt
„Hello Dolly“ am Gelsenkirchener MiR – Musical in NRW 04/24
Nicht gerade familientauglich
„Frankenstein Junior“ an der Oper Bonn – Musical in NRW 10/23
Wohliges Gruseln im Bergischen
„Addams Family“ im Wuppertaler TiC-Theater – Musical in NRW 06/23
Alle Jahre wieder
„Rocky Horror Show“ am Capitol Theater – Musical in NRW 06/22
Abschied von einer Diva
„Sunset Boulevard“ in Krefeld – Musical in NRW 04/22
Zwei Flops und ein Volltreffer
„Der Mann von La Mancha“ am Theater Münster – Musical in NRW 03/22
Schillernde Vielfalt
Endlich wieder Musicals auf den NRW-Bühnen – Musical in NRW 01/22
Hagen liegt am Broadway
Monty Pythons „Spamalot“ am Theater Hagen – Musical in NRW 11/21
Nur ein paar (Stepp-)Schritte vom Broadway entfernt
„Chicago“ an der Bonner Oper – Musical in NRW 10/21
Sting kann auch Musical
Deutsche Erstaufführung von „The Last Ship“ in Koblenz – Musical in NRW 09/21
Hippie-Flower-Power-Rock
„Hair“ auf Burg Wilhelmstein bei Aachen – Musical in NRW 07/21
Das Musical-Phänomen schlechthin
„The Fantasticks“ in Bad Godesberg – Musical in NRW 07/21