Vielleicht hat es der ein oder andere Jazzfans schon gehört: Das Moers Festival erhält ein eigenes Festspielhaus. Diese Nachricht – wie die meisten Nachrichten – lässt sich in zweierlei Lesart interpretieren. So lassen diverse Blätter verlauten, das Festival hätte nach ruheloser Wanderschaft durch Burghöfe und Wiesen- und Zeltwirtschaften nun endlich eine eigene Heimstatt gefunden. Festivalchef Reiner Michalke nennt es „eine feste Adresse". Er kennt die Wahrheit und verschweigt sie nicht: Das Fest war mit seiner aufwendigen, unperfekten und deshalb sehr teuren, aber auch einzigartig atmosphärischen Ausführung nicht mehr zu stemmen. Doch ist Michalke ein schlauer Ärmelaufkrempler, der für seine aktuelle improvisierte Musik auch ein neues Festival erfinden will. Das alte Fest, gegründet 1972, stirbt nämlich mit dem verlorenen Schlosspark-Gammel.
Längst waren die Nicht-Musikhörer im Park rund um das Festivalzentrum mit dem markanten blauen Zirkuszelt, das im beinahe obligatorischen Regenwetter immer noch nach Raubtieren stank, in der Überzahl. Dieser Happening-Charakter, die Freiheit mit Shit und Alkohol und dröhnenden Bongos in der Nacht war Magnet für zigtausende Ewigjunge, deren Enkelgeneration auch schon wieder in Burgen aus Bierkisten spielten. Sie alle werden nicht wiederkommen. Den niederrheinischen Spießbürgern wird der Pfingstspaziergang durch die Freak-Kolonien mit den kleinen und großen Müllbergen und dem kakophonischen Sound aus dem nicht isolierten Zelt nicht fehlen. Es sind nur wenige, die in Moers um dieses einzigartige, international wahrgenommene Fest kämpfen.
Ob der Plan Michalkes gelingt, ein nur auf der Musik basierendes Festival zu kreieren, mit allen Vorteilen einer speziell geplanten Konzertsituation in einer regensicheren Halle mit guter Bühnensicht und prima Sound, das wäre dem Heerführer gegönnt. Immerhin wurde der Bau jetzt aus überregionalen Töpfen gespeist und eröffnete damit ein ganz ungewohnt hohes Budget für das Programm. Prompt wurde das Geld in diverse Großprojekte investiert, um einer kommenden Ära ein angemessenes Prunkprogramm vorauszuschicken. Den Startschuss des nun wieder 4-tägigen Festivals zupft Sebastian Grams mit knapp fünfzig Kollegen, allesamt Kontrabassisten. Das soll gleichzeitig ein Salut an den Festival-Mitbegründer Peter Kowald sein, der in diesem Jahr 70 Jahre alt geworden wäre. Grams spielt auf Kowalds Instrument. Das Orchestre National de Jazz aus Frankreich, die Ricky-Tyck Big Band aus Finnland, die Large Unit aus Norwegen, The Sun Ra Archestra mit Marshall Allen und das Orchestra Rumpiless trefen auf Heroen der vergangenen Festtage wie Arto Lindsay, Fred Frith, Marc Ribot und die wilden Trommeln von Jaki Liebezeit, Joey Baron oder Altmeister Han Bennink.
Moers Festival | 6. - 9.6. | www.moers-festival.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Nichts Weltbewegendes?
53. Moers-Festival – Festival 05/24
Die Stadt mœrsifizieren
Moers Festival begeistert mit Angebot und Stadtnähe – Festival 05/18
Der Klang von Pjöngjang
Das mœrs festival 2018 – das Besondere 05/18
Musikalischer Futur in Hieroglyphen
Eindrücke vom zweiten Tag des Moers Festivals - Festival 06/17
„Es geht um die reine Kunst, die auf der Bühne passiert‟
Tim Isfort über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Moers Festivals – Festival 05/17
Das New Orleans vom Niederrhein
Moers-Festival überlebt einmal mehr finanzielle Schwierigkeiten – Popkultur in NRW 05/16
Klanglandschaften
Moers-Festival bot vom 22.-25.5. an vier Tagen virtuose Musik – Improvisierte Musik in NRW 05/15
Aura intakt
44. Moerser Festival versammelt internationale Sets – Improvisierte Musik in NRW 04/15
Holidays in the sun
Was tun, wenn der Festivalsommer ruft? – Popkultur in NRW 05/13
Leere Kassen überall
Moers lässt das Festival munter wackeln – Improvisierte Musik in NRW 05/12
„Der Kulturbereich hat keine Lobby“
Reiner Michalke, Künstlerischer Leiter des Moers Festival, über kommunale Nöte und musikalische Highlights - Musik in NRW 03/12
Die Zeitlosigkeit der Avantgarde
40 Jahre Moers Festival. Mit einer Legende konnte Festivalchef Reiner Michalke das Jubiläum feiern - Musik in NRW 06/11
Trotz finanziell angespannter Lage
Konzerte im Kölner Stadtgarten im Januar – Improvisierte Musik in NRW 01/25
Intime Weltenwanderer
Markus Stockhausen und Ferenc Snétberger im Parkhotel Engelsburg – Improvisierte Musik in NRW 12/24
Tolerante Szene
An diesem Abend gehen Kölner Jazzbühnen fremd – Improvisierte Musik in NRW 11/24
Nordisches Spitzenprodukt
Rymden am Theater Krefeld – Improvisierte Musik in NRW 10/24
Experimentell und innovativ
3. New Colours Festival in Gelsenkirchen – Improvisierte Musik in NRW 09/24
Immer eine Uraufführung
4. Cologne Jazzweek – Improvisierte Musik in NRW 08/24
Ein Abend für den Duke
Jason Moran und die hr-Bigband in Duisburg – Improvisierte Musik in NRW 07/24
Musikalische Eröffnung der EM
Bundesjazzorchester mit Tom Gaebel in Dortmund und Köln – Improvisierte Musik in NRW 06/24
Verschiedene Welten
Drei Trompeter besuchen das Ruhrgebiet – Improvisierte Musik in NRW 05/24
Besuch von der Insel
„Paul Heller invites Gary Husband“ im Stadtgarten – Improvisierte Musik in NRW 04/24
Pure Lust an der Musik
Das Thomas Quasthoff Quartett im Konzerthaus Dortmund – Improvisierte Musik in NRW 03/24
Kleinstes Orchester der Welt
„Solace“ in der Friedenskirche Ratingen – Improvisierte Musik in NRW 02/24
Mit zwei Krachern ins neue Jahr
Jesse Davis Quartet und European All Stars in Köln – Improvisierte Musik in NRW 01/24