Catherine Jauniaux brabbelt und jauchzt, rezitiert französische Texte. Es wirkt bedrohlich, schreckhaft, elegant oder ironisch. Sevket Akinci lässt auf der E-Gitarre einzelne Riffs aufheulen, die an frühen Rockjazz erinnern. Dann bringt er die Saiten mittels eines Handventilators zum Schwingen. Jim Campbell an der Live-Elektronik variiert dunkle futuristische Klänge.
Die Belgierin Catherine Jauniaux widmet sich seit den 1970er Jahren der experimentellen Musik. Sevket Akinci ist Mitgründer der türkischen Band Islak Köpek, die seit 2005 zur Verbreitung improvisierter Musik in der Türkei beigetragen hat. Der US-Amerikaner Jim Campbell lebt seit Langem in Deutschland. Sein Material entstammt einem Jahrzehnte umfassenden Fundus analoger Aufnahmen. In der Musikschule Moers treten sie das erste Mal gemeinsam auf. Sie verzichten auf Blickkontakte, scheinen ganz bei sich. Der musikalische Ausdruck genügt, um aufeinander einzugehen.
Es gehört zum Moers Festival, ungewöhnliche Konstellationen auf die Bühne zu bringen. Tim Isfort, neuer musikalischer Leiter des Festivals, möchte diese Tradition intensivieren, zum Beispiel mit den Moers Sessions, zu denen der Auftritt in der Musikschule gehört. Aus dem ursprünglichen New-Jazz-Festival ist längst ein Festival improvisierter Musik geworden, offen für alle Genres.
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Ein langer musikalischer Vortrag, keine Distanzierung durch Moderation oder Applaus: Der Auftritt des britisch-deutschen Trios Keune/Lash/Noble in der großen Festivalhalle zeigt die hypnotische Qualität improvisierter Musik. Das Trio findet Platz auf einer kleinen Bühne in der Saalmitte, umgeben von Publikum. Dominic Lash zupft und streicht den Kontrabass in so düstere Klangfarben, dass man vergeblich nach einer fünften Saite Ausschau hält. Stefan Keune entlockt dem Saxophon Quietschen, Japsen und Mechanikklappern. Steve Noble fährt über alle Apparaturen des Schlagzeugs, klopft, fegt und rattert. Keiner hält inne, jede Stimme kämpft um weiteren Raum. Dann nehmen sie sich plötzlich zurück und jedes Instrument bringt Geräusche hervor, als öffneten sich schwere, schlecht geölte Türen.
Anders präsentiert sich der Trompeter John-Dennis Renken, der als diesjähriger Improviser in Residence das kulturelle Leben in Moers mitprägt. Auf der Hauptbühne der Festivalhalle tritt er erstmals mit dem deutsch-australischen Quintett Tribe auf. Den Anfang machen druckvolle Riffs in virtuoser Funkjazz-Tradition. Nach der Eröffnung lobt Renken seine Band, man dürfe ruhig mal sagen, dass etwas gut war, lacht er. Balladenhaft geht es weiter, und nachdem der letzte leise Ton verklungen ist, gesteht Renken dem schweigenden Saal, er sei froh, nicht geheult zu haben. Der junge Vater hat einige Kompositionen des Abends seiner Tochter gewidmet. Irgendwo im Saal erlebt sie heute zum ersten Mal einen Auftritt ihres Vaters. Die Band findet zurück zum vertrackt-druckvollen Spiel, das nicht zuletzt durch Shannon Barnett eine besondere Färbung erhält. Die Posaunistin lässt ihr Instrument grunzen und knarzen, soliert wunderbar flüssig und dynamisch.
Das Live-Publikum improvisierter Musik kommt kaum umhin, die bloße Klangerzeugung als Rätsel zu begreifen. Im Zentrum vieler Aufführungen stehen die Elektroniken, die sich einzelne Künstler offenbar selbst auf den Leib geschneidert haben. Welcher Außenstehende wüsste, wie diese Geräte funktionieren, welche Fertigkeiten sie erfordern? Sie muten an wie Verkettungen Computer-artiger Bauteile. Oder wie bunt beleuchtete Brettspiele. Letzteres spielt Korhan Erel, ein weiteres Gründungsmitglied von Islak Köpek. Beim Auftritt des Quintetts in der Musikschule drückt er Knöpfe, wackelt an ihnen, schraubt an Reglern und wischt über einen Touchscreen. Die Klänge könnten anfangs zurückgehen auf einen Verwandten des Roboters R2D2, ähneln Münzenklimpern, münden in Nagen und Klackern und deuten Sphärisches an.
Nebenstehend spielt Dirk Stromberg das Phallophon, optisch irgendetwas zwischen Auspuffrohr, Fieberthermometer und Platinenschrott. Walgesänge, Starkstrom-Brummen, das vorbeirauschende Knattern von Rennwagen – Klänge ähnlich wie diese fügt Stromberg denen von Korhan Erels Brettspiel hinzu. Die Anfänge der Band liegen in Istanbul, sie ist eingeladen als Vertreterin einer Stadt, deren Kultur durch politische Entwicklungen bedroht ist. Der Saal verdunkelt sich als es während des halbstündigen Stücks in dicken Fäden regnet. Durch die offene Tür dringen Regenrauschen und ein Luftzug, der die schwüle Hitze vertreibt, die auf alles drückte. Ein schöner Zufall.
Am Abend kehrt ein alter Bekannter zurück. In den 70er Jahren trat der US-amerikanische Saxophonist und Komponist Anthony Braxton mehrfach in Moers auf, 2007 kam er noch einmal. Nun gibt er in Moers sein einziges Europa-Konzert in diesem Jahr, mit dem er zugleich in seinen 72. Geburtstag feiert. Braxton habe sich vor langer Zeit vom Jazz verabschiedet und sei heute ganz woanders, moderiert Tim Isfort auf der großen Bühne. Das Werk umfasst Synthesen aus Free Jazz, Klassik und Neuer Musik, Opern und Remixe. Anders als angekündigt tritt seine Formation ZIM als Septett auf, nicht als Sextett. Den Anfang machen sich überschlagende Bläser gefolgt von ruhig getragenen Passagen. Die beiden Harfen, gespielt von Shelley Burgon und Jacqueline Kerrod, schaffen eine traumartige Präsenz. Braxton lenkt die sechs anderen mit gelegentlichen Fingerzeigen und wechselt zwischen Saxophontypen. Gelegentlich greift er zur gigantischen Kontrabassklarinette, löst sich nach dem Spiel zögerlich von ihr und hält wie schmerzhaft inne. Dann scheint er zufrieden. Die Eigenwilligkeit der Musik erschließt sich auch dem neugierigen Auge: Auf dem Notenständer wechseln die Blätter. Von vertrauter Notation fast keine Spur. Stattdessen ähneln die Skizzen Labyrinthen, Hieroglyphen oder mathematischen Formeln.
Zum Auftritt der experimentellen Rockband Swans hat es der Autor nicht mehr geschafft. Ihre legendär lauten Konzerte gelten als riskante Belastungsprobe für die Kreisläufe der Hörenden. Da war die müde Hoffnung, die Swans würden noch den Zug nach Hause vibrieren lassen. Sie hat sich nicht erfüllt.
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