„Das Unerhörte, Unerwartete hörbar machen, im ‚Mœrs Labor‘ die Begegnung mit verschiedenen Musikern ermöglichen, das sind Schwerpunkte“, erklärt Pressesprecherin Eva Marxen die Ausrichtung des diesjährigen 47. Moers Festivals. So treffen etwa bei der Marimba-Madimba Conférence Berliner und kongolesische Musiker aufeinander, fallweise auch noch durch Improvisationen mit Spoken Word Poetry und Elektronik ergänzt. Bei „Siddi Traces“ spielen indische Musiker mit deutschen zusammen. Der geplante „Fokus Pyongyang“ kam jedoch nicht zustande, weil die nordkoreanischen Musiker keine deutschen Visa erhielten. Der Künstlerische Leiter Tim Isfort hofft allerdings, sie nächstes Jahr präsentieren zu können.
„Ein weiteres Anliegen ist, sich an die Idee des ersten Festivals 1972 und an seine geistigen Väter zurück zu erinnern“, fährt Eva Marxen fort. So tritt Saxophon-Altmeister Peter Brötzmann, der schon damals Impulsgeber war, gleich mehrfach auf: Solo im Schlosshof, mit der US-Band Oxbow sowie mit seiner langjährigen Duo-Partnerin Heather Leigh. Außerdem nimmt er an einer der „discussions!“ teil. Das 2017 neu eingeführte Format, bei dem Fragen nach dem Festivalinhalt oder dem Stellenwert von Musik erörtert werden, wurde dieses Jahr auf fünf Gesprächsrunden ausgeweitet. „Früher herrschte hier das Bild von Chaos hinterlassenden Campern vor“, berichtet die Kultur-GmbH-Aufsichtsratsvorsitzende Carmen Weist. „Doch jetzt sind wir näher an die Stadt herangerückt und haben sehr viel positive Resonanz von dort.“ Dieses Jahr spielt die Musik nicht nur in der Halle auf dem außerhalb liegenden Festivalgelände, sondern auch kostenlos an mehreren Standorten in der Innenstadt, etwa in dem Peschkenhaus, der Villa Wölkchen, der Stadtkirche, dem Schlosstheater und anderen. Ein Festival Express verbindet die beiden Bereiche. „Wir wollen das Festival in die Stadt hineintragen, diese mœrsifizieren. Es ist unser musikalisches Geschenk an die Bürger“, erläutert Eva Marxen. Neben den musikalischen Auftritten sind mit „Punch Agathe“ meterhohe Figuren des Straßentheaters Snuff Puppets, der niederländische Gitarrist Bram Stadhouders mit seiner riesigen Drehorgel oder das Piano mobil mit wechselnden Klavierspielern in der Innenstadt unterwegs.
Samstagnachmittag begeistern „DOMI œ Bobby Hall“, die kurzfristig für Frank Fairfield & Meredith Axelrod eingesprungen sind, die Besucher in der Halle. Die französische, 17-jährige Pianistin Domi gehört zu den jüngsten Keyboard-Innovatorinnen weltweit, während der 17-jährige Bobby Hall aus Brooklyn ein Multiinstrumentalist ist. Er erklärt, dass er in der Kirche aufgewachsen und deshalb von Gospel und Spiritual inspiriert sei. Die beiden spielen eine verrückte Mischung aus elektronischen Orgelklängen, Jazz, Groove und Soul, ergänzen sich ausgezeichnet und hinterlassen bleibenden Eindruck.
„Wien ist anders“ – das erlebt man in Moers beim Auftritt des jungen Wiener Trios Dsilton, das mit ungestimmten Tasteninstrumenten und einer neuentwickelten E-Gitarre mit 31 Bünden pro Oktave ein erweitertes Klangspektrum präsentiert. Bandleader Georg Vogel brilliert an Keyboard und Piano, David Dornig gratwandert an der E-Gitarre zwischen Schräg und Hörbar, Valentin Duit am Schlagzeug liefert fulminant die rhythmische Grundlage. Omas Lampenschirme auf der Bühne kombinieren Avantgarde-Sound mit Gemütlichkeit. Im Hintergrund illustriert das großformatige Foto eines einsamen Einkaufswagens mitten in der Alten Donau, umwoben von Novembernebel, Wiener Morbidität par Excellence. Anklänge an das legendäre Harry-Lime-Thema von Anton Karas aus dem „Dritten Mann“, Heurigenmusik und Altwienerlied werden atonal verfremdet und ins Spacige transponiert. Berechtigter Applaus!
Anschließend heizt Richard Dawson aus der englischen Kleinstadt Newcastle-Upon-Tyne mit seinem „full band set“ den Zuhörern ein. Er interpretiert vornehmlich irische Folk Music in archaischer, tonartfremder Weise. Seine Lieder thematisieren Bedrückendes. Seine Stimme ist eine Spur zu schrill, zu laut und zu unmelodisch. Mat Baty haut mit zu viel Wucht auf das Schlagzeug. Die Violine von Angharad Davies vibriert nervös im Exzess. Rhodri Davies bearbeitet die Harfe atonal. Die Backgroundsängerinnen sind ebenfalls zu laut. Das Ganze erweist sich als der typische Richard-Dawson-Sound. Über den ein Kritiker treffend schreibt: „Manchmal entscheidet sich erst im Rückblick, ob ein zunächst verstörendes Werk zum Freak-Klassiker gereift ist.“ Eines ist jedoch unbestritten: Der kleine Mann verfügt über eine gewaltige Stimme.
Wer sich zwischendurch etwas Luft verschaffen will, kann gemütlich durch das Festivaldorf schlendern, wo thailändische, georgische, indianische, israelische und rheinische Kulinarika angeboten werden. Aber auch Kleider, Hüte, Schuhe, Schmuck, Muscheln und sonstige exotische Staubfänger sind käuflich erwerbbar. Viele Besucher chillen in den Liegestühlen vor der Halle, umgeben von kniehohen Gartenzwergen. Eine friedliche, gelassene Stimmung liegt in der Luft. Kritisiert wird im Internet allerdings das Getränke- und Flaschenverbot für die Halle samt entsprechenden Taschenkontrollen.
Das Herzstück des Festivals bilden die mœrs sessions!, bei denen sich Musiker erstmalig begegnen und improvisieren. Beim Gespann Matt Nelson (ts), David Dornig (eg) und Moritz Baumgärtner (dr) fällt allerdings die Dominanz von ersterem unangenehm auf. Während der Drummer mitzuhalten versucht und sein Schlagzeug mit allem was geht heftigst bearbeitet, hält sich die E-Gitarre bescheiden im Hintergrund. Viel zu spät geht der massive, abwechslungslose Sound in sanftere Töne über. Das Publikum lauscht andächtig, geht aber nicht mit. Die nächste Gruppe, bestehend aus Ron Stabinsky (p), Wilbert de Joode (b), Steve Swell (tb) und Emilio Gordua (vibr), hingegen bietet ein Feuerwerk an Kreativität. Gordua bearbeitet sein Vibraphon mit Streichbögen, Eisenketten, Milchschäumer und bloßen Händen. Swell traktiert die Posaune mit Mundstück, Schalldämpfer und was ihm sonst noch einfällt. Stabinsky zupft die Klaviersaiten im Flügelinneren und bläst die Tasten an. Dagegen ist das Schlagen des Basses durch de Joode noch harmlos. Das experimentelle, dissonante Inferno wechselt zwischen wilden und ruhigen Phasen und verblüfft durch einzigartige Originalität. Wer jetzt noch nicht genug mœrsifiziert ist: Sämtliche Gigs werden von WDR und arte live gestreamt und sind anschließend sechs Monate als Video-on-demand abrufbar.
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