Zuweilen heideggert es, wenn es um den neuen Dortmunder „Stadtbeschreiber“ geht: Alexander Estis heißt der Amtsträger, der im Mai ins Ruhrgebiet zieht. Bei seiner Vorstellung im Literaturhaus Dortmund gab der 36-Jährige bereits eine wortspielerische Kostprobe. Denn bereits sein jüdischer Name berge allerlei Missverständnisse, die eben an Heideggers Jargon erinnern, der in seiner Erschließung der menschlichen Existenz bekanntlich das Wort „sein“ ontologisch durchkrempelte.
Stelle Estis sich vor, so frage sein Gegenüber: „Was ist?“ Oder er werde als estnischer Autor wahrgenommen. Was Estis an diesem Abend wiederum zur Frage veranlasst, ob andere Schriftsteller auch ihre Nationalitäten im Namen signalisieren? Als „Merle Deutschland“ oder „John USA“? Die Word-Autokorrektur spuke dagegen „Isis“ aus. Und an seinem Büro stand auf einem frischen Namenschild einmal: Herr Ernstis. Sein Fazit: „Die Lage ist ernst!“
Ernst sind zum Teil auch die Geschichten, die Alexander Estis Band „Fluchten“ versammelt. Der 1986 in einer jüdischen Künstlerfamilie in Moskau geborene Schriftsteller befasste sich für sein Buch auch mit realen Fluchtgeschichten von Menschen aus der Ukraine oder Russland – oft vor dem Hintergrund des aktuellen Kriegs. Solche Texte sparte Estis an diesem Donnerstagabend im Literaturhaus jedoch aus. Stattdessen trug er jene Beispiele vor, in denen es ums Fluchtergreifen (oder den Wunsch danach) aus absurden, peinlichen, beruflichen oder bürokratischen Situationen geht.
So las Estis die Langfassung einer Kurzprosa vor, in der es eben um das titelgebende Kürzen geht. Denn das verlangt in dieser Erzählung ein Lektor, nachdem der Ich-Erzähler ein Manuskript einreichte. Es solle um ein Drittel gestrichen werden, am besten auf ein Drittel. Anschließend könne er noch einmal richtig kürzen. Aus der Schilderung dieses leidvollen Schriftstellerdasein schafft Estis eine witzige Kurzprosa. So fallen in dem Manuskript etwa die philosophischen Abschweifungen weg. „Aber beim Grübeln kamen weitere 400 Seiten hinzu.“
Dabei hat Estis selbst offensichtlich keine Probleme damit, seine Prosa in eine Kurzform zu pressen. Denn „Fluchten“ besteht eben aus literarischen Miniaturformen, die oft zwischen Tragik und Witz kippen. Damit wolle sich Estis auch von einer dominierenden Tendenz in der Verlagsbranche abgrenzen: „In der Literatur geben sich viele damit zufrieden, dass der Roman mit nur einer Stilistik vorherrschend ist.“
Der promovierte Philologe erwähnt in dieser Hinsicht den Begriff „Midcult“, den der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler einbrachte, um seine Kritik an der Gegenwartsliteratur zu kategorisieren. Midcult bezeichnet einen populären Realismus, der eine intellektuelle Lektüre vorgaukele, die letztendlich aber leicht konsumierbar, „liegestuhltauglich“ sei, wie Baßler polemisiert.
Genau das wird von Erstis sicherlich nicht zu erwarten sein, wenn er mit seiner Residenz im Mai und seiner doppelbödigen Miniaturliteratur in Dortmund loslegt. Sein vielversprechender Arbeitstitel für sein Stipendium im Dortmunder Kreuzviertel: „Urbane Visionen“.
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