Von Olaf Weiden „Keiner schlafe“, so ermahnt der unbekannte Prinz das Volk in Puccinis „Turandot“, diesmal in der Oper Essen. Der Tenor singt nicht schlecht, und es schläft auch keiner im Publikum. Die Öhrchen sind gespitzt. Es handelt sich immerhin um jenes viel beschriene „Nessun dorma“, das es mit seiner Majestät Luciano „der Ewige“ Pavarotti sogar in die Welt- Hitparade geschafft hat. Alle Operntenöre haben diesen Opernknaller in Matrize geritzt, auf Platte gepresst und auf Senkel verewigt, sie sind revitalisiert auf digitalen Tonträgern erschienen und werden auf DVDs ausgeliefert bzw. direkt aus dem Netz geladen. Opernarien, die beliebten und reizvollen Spitzen des Musiktheaters, die sich im täglichen Gebrauch niemand durch den Konsum ganzer Opernbandwürmer verdienen muss, können nach Lust und Laune konsumiert werden. Sie sind Volksgut geworden, mindestens aber vertraute Wegbegleiter aller Opernfreunde. An der Spitze der Beliebtheitsskala behaupten sich vorwiegend Tenöre. Doch das, was die Konserve uns vorsingt, klingt völlig anders als die Realität.
Die Tontechnik zaubert den leichten flexiblen Stimmen ein nie gekanntes Volumen herbei und hebt sie technisch über sämtliche Begleitstimmen. Der Essener Tenor sang prima, alles richtig. Und doch tönten über den spärlichen Szenen-Applaus von den Rängen Buhrufe mit der Aussage: „Das kennen wir anders!“ Stimmt auch. In der Welt der Oper ist eben alles völlig anders: Die Orchestergräben wurden akustisch optimiert, die Instrumente sind besser als je zuvor, das sogenannte Regietheater kümmert sich „einen Scheiß“ um akustisch günstige Sängerplätze, die wenigsten Bühnenbildner beziehen raumakustische Überlegungen in ihre Konzepte ein, und die Protagonisten werden möglichst natürlich bis künstlerisch verfremdet auf der Bühne geführt. Der Tenor, dessen Aufgaben sich über die Jahrhunderte in der Musikgeschichte sehr verändert haben, krankt von Hause aus an einer Gespaltenheit: Kommt die Stimme aus dem Baritonalen, so müssen die Höhen umkämpft werden – siehe Placido Domingo, der altersweise ins Baritonfach zurückgekehrt ist. Oder die Stimme beherrscht den Luftraum, das rächt sich in der Mittellage – siehe die meist lyrischen Tenöre, die aktuell über die Bühnen geschickt werden. In fast allen Premieren-Besprechungen wird das mangelnde Volumen der Tenorsolisten beanstandet. Die werden aber nicht lauter, wenn das Publikum Buh schreit. Wer mit kleinen Stimmen, die gern in hervorragenden Darstellern und kultivierten Sänger schlummern, einen Erfolg erzielen will, der muss sie auch inszenieren. Und der musikalische Leiter darf sein Orchester nicht darüber fahren mit der Ansage: „Der kann das nicht!“ Ganz besonders ist aber das Opernpublikum aufgefordert, genau hinzuhören, ob ein Interpret schlecht singt oder nur zu leise. Selbst Jahrhundertstimme Fritz Wunderlich hatte Urängste vor seinem Debüt in New York auf der legendär großen Bühne. Große schöne Tenorstimmen sind und waren immer selten. Selbst Domingo in seiner Paraderolle als Otello klang auf der Bühne nie überwältigend. Aber die Big Three, deren Stimmvolumen kein Stadionbesucher je wirklich gehört hat, haben die Hörerfahrung geprägt, die heute das Maß aller Dinge bestimmt. Die Opernfreunde müssen zur Bescheidenheit zurückfinden.
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