Es kommt selten vor, dass es ein Dokumentarfilm in den Wettbewerb der Berlinale schafft. Mit großer Spannung wurde also nun die Vorpremiere zum Kinostart von „Beuys“ im Essener Filmstudio erwartet, den Regisseur Andres Veiel vor vollem Haus präsentiert. Seine einleitende Bemerkung, man habe mit vielen Höhen und Tiefen allein am Schnitt dieses Films 18 Monate montiert, lässt bereits aufhorchen. Und tatsächlich ist das Ergebnis eine virtuos komponierte, assoziative Montage, die aus einer unglaublichen Fülle von Archivmaterial schöpft. Mit rund 400 Stunden Filmmaterial, 300 Stunden Tonmaterial, über 20.000 Fotos hatten es Veiel und seine Editoren zu tun. Von über 200 Lizenzgebern galt es, zu jedem Filmschnipsel und jedem Foto die Rechte einzuholen. Zum Teil wurden unveröffentlichte Aufnahmen für ein großes Publikum neu entdeckt. Obwohl man bereits mit zahlreichen ZeitzeugInnen Interviews gedreht hatte, stellte Veiel bei der Bearbeitung immer wieder fest, dass Beuys selbst im Bild meist überlegen war, und so gewann das Archivmaterial immer mehr an Raum. Der Film folgt Beuys‘ künstlerischen Ideen, seinem Leben und Werk, und findet mit Virtuosität und Leichtigkeit einen ganz eigenen filmischen Rhythmus, der eine Mehrdeutigkeit des Materials ermöglicht, die Veiel wichtig war. Traditionelle analoge Medien werden verwoben durch eine variantenreiche digitale Bearbeitung und Vertonung, die eine eigene künstlerische Freiheit einfordern. Eine weitere Herausforderung sei es gewesen, in diesem Setup eine Filmmusik zu entwickeln, die die Bildebene verstärkt ohne sich selbst in den Vordergrund zu spielen, erzählt Veiel über den Prozess der aufwändigen Postproduktion.
Herausgehoben werden im ausführlichen Filmgespräch mehrfach die Aktualität der visionären Ideen von Josef Beuys, die auch für Veiel den Ausschlag gaben, ihn 30 Jahre nach seinem Tod filmisch neu zu inszenieren: Beuys’ revolutionäres Kunstverständnis genauso wie seine glasklare Analyse der Machtverhältnisse, die jeden demokratischen Prozess unterlaufen, wenn Geld nicht dort eingesetzt wird, wo es gebraucht wird, sondern den meisten Profit abwirft. Veiel erläutert, dass er immer wieder positiv davon überrascht wurde, wie weit Beuys seiner Zeit voraus war. Er sieht in Beuys den Hasen, der immer schon da ist, wo man ihn nicht vermutet. So geht der Film „Beuys“ weit über eine biografische Annäherung hinaus, auch wenn die ungewöhnliche Biografie des Jahrhundertkünstlers, sein Charisma und sein künstlerisches Werk schon so viel Stoff liefern. Hinter all den sensationellen Präsentationen, Performances und Gesten erkennt Veiel eine tiefe Ernsthaftigkeit, sodass er auch nach drei Jahren intensiver Auseinandersetzung immer wieder belohnt wurde, weil er Neues entdecken durfte. Zwar habe Veiel den Wunsch, die Zuschauer mit ihren Fragen nicht ganz allein zu lassen, doch liege es ihm fern, Beuys und seine Arbeit erklären zu wollen. „Ich zeige Ihnen meinen Beuys“, resümiert er. Dafür sei er bereits von einigen bespuckt und beleidigt worden, die ihre Lesart in dem Film nicht wiederfinden. Vom Publikum in Essen erntet er viel Applaus und Zustimmung.
Lesen Sie dazu auch unser Gespräch zum Film mit Regisseur Andres Veiel.
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