Die Mondlandung wurde in Hollywood inszeniert, das Kennedy-Attentat geht auf das Konto der CIA und der Anschlag auf das World Trade Center war ein Inside Job – Verschwörungstheorien gibt es zu jedem politischen oder gesellschaftlichen Großereignis. Es ist kaum verwunderlich, dass auch während der Corona-Krise das Verschwörungsgeraune Konjunktur hat. Doch wie gehen wir damit um, wenn Teile der Gesellschaft Veganköchen auf Telegram mehr Vertrauen entgegenbringen als etablierten Medien? Um mit Verschwörungstheoretikern umzugehen, muss man zunächst nachvollziehen, wie der Glaube an Verschwörungen entsteht.
Die Sozialpsychologin Pia Lamberty untersucht das Phänomen schon lange. Im Mai publizierte sie gemeinsam mit der Netzaktivistin Katharina Nocun das Buch „Fake Facts“. Das Problem, so schildern die Autorinnen, fange schon beim Namen an: Statt „Verschwörungstheorie“ benutzen Lamberty und Nocun das Wort „Verschwörungserzählung“. Während „Theorie“ ein wissenschaftliches Fundament suggeriert, weist das Wort „Erzählung“ darauf hin, worum es tatsächlich geht: den Versuch einer kohärenten Welterklärung. Menschen greifen laut den Autorinnen aus zwei Gründen auf Verschwörungserzählungen zurück: Zum einen dienen sie als Halt vor einem erlebten Kontrollverlust. Die Auswirkungen der Corona-Krise sind dafür ein Paradeanlass. In krisenhaften Momenten, in denen diffuse Angst aufgrund komplexer Problemlagen nicht klar zugeordnet werden kann, helfen Feindbilder. Bill Gates als das einzig Böse zu deklarieren, ist einfacher und bietet ein geschlosseneres Weltbild, als die komplizierte Genese des Virus anzuerkennen, in der Ursachen und Schuldzuweisungen schwer zu leisten sind. Zum anderen befriedigen Verschwörungserzählungen das Bedürfnis nach Einzigartigkeit. Während man sich selbst im Besitz der verborgenen Wahrheit wähnt, kann man wunderbar auf all die anderen blinden Schlafschafe hinabblicken.
Sehnsucht nach einem Feindbild
Wie aber mit diesen psychologischen Befunden umgehen? Wer selbst mal versucht hat, mit Anhängern von Verschwörungserzählungen zu diskutieren, weiß: Das ist gar nicht so einfach. Statistiken und wissenschaftliche Erkenntnisse sind im Zweifel eh gefälscht. Im Klein-Klein der Faktenanalyse kann man Verschwörungsgläubige kaum überzeugen, vor allem nicht jene, die schon vollends im Sumpf der Verschwörungserzählungen abgetaucht sind. Je früher man interveniert, desto größer die Chancen auf Erfolg. Dabei sollte es nicht darum gehen, sich über die #covididioten lustig zu machen, sondern nach Ursachen und Funktionen von Verschwörungserzählungen zu fragen. Woher speist sich die Angst, woher kommt die Sehnsucht nach einem Feindbild? Denn diese Ängste speisen sich oft genug aus realen sozialen und politischen Verwerfungen, die ernst genommen werden müssen.
Diese Perspektive hilft nicht nur auf persönlicher Ebene. Wenn Medien beispielsweise eine Demonstration gegen die Corona-Verordnungen in Stuttgart zum Großereignis hochschreiben und dabei alle Teilnehmer*innen mehr oder weniger zu Verrückten erklären, machen sie zwei Fehler auf einmal. Ein Einzelereignis wird medial überhöht und generiert Aufmerksamkeit für gefährliche Verschwörungsideologen. Gleichzeitig werden jene pauschal diffamiert, deren existenzielle Verzweiflung sie auf die Straße treibt, was sie wiederum anfälliger für Verschwörungserzählungen macht. Stattdessen braucht es strukturelle Analysen und historische Einordnungen über Verschwörungserzählungen, für die, stellen Lamberty und Nocun fest, wir alle anfällig sind.
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