Es fing im März mit kleinen Kundgebungen an. Gruppen von vierzig Teilnehmer:innen versammelten sich in Berlin und anderen Großstädten, um gegen den Lockdown zu demonstrieren. Versammlungsverbote und Abstandsregeln wurden missachtet. Für nicht wenige Hygienedemonstrant:innen waren die Corona-Maßnahmen eine Art Verschwörung, ein Putsch, um ein autoritäres Regime zu installieren. Umfragen untermauern, wie weit verbreitet diese Ansichten sind: Laut Infratest dimap halten 17 Prozent der Bürger:innen die Pandemie für einen bloßen Vorwand, um die Freiheitsrechte einzuschränken. 38 Prozent der Befragten beklagen, in der Familie, im Freundes- oder im Bekanntenkreis auf Corona-Skepsis zu treffen.
Das Ausmaß spürt man auch in der Sekten-Info NRW. Die Beratungsstelle mit Sitz in Essen hilft und informiert bei Konflikten im Zusammenhang mit religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften, darunter viele Sekten. Insgesamt gab es alleine im letzten Jahr 975 Beratungsanfragen aus unterschiedlichen Gründen. Hilfesuchende finden bei der Sekten-Info ein Team aus je einer Psychologin, Pädagogin, Anwältin und einem Theologen. Das Angebot ist kostenlos, lösungsorientiert und weltanschaulich neutral, wie Geschäftsführerin Sabine Riede versichert. Zudem besteht eine Verschwiegenheitspflicht.
Zuletzt suchten immer mehr Menschen die Beratungsstelle auf. Der Grund: die Verschwörungstheorien, die sich in der Bevölkerung rasant ausbreiten. „Das spielt seit Jahren eine Rolle“, erzählt Riede. Doch seit dem Ausbruch des gefährlichen Virus melden sich Hilfesuchende nahezu täglich. Darunter befinden sich oft Angehörige von Betroffenen. Riede erzählt von Menschen mittleren Alters, die berichten, wie sehr sich ihre Eltern, Partner oder ihre Geschwister plötzlich verändert haben. „Sie sind deswegen sehr in Sorge.“
Vom Okkulten zur Schulmedizin
Viele haben gut recherchiert, vermittelt, argumentiert. Doch auch Bilder aus Corona-Hotspots oder Statistiken über das Ausmaß des Virus überzeugten die meisten nicht. „Das sollte man eher ruhen lassen“, empfiehlt Riede. Oft führe rationale Argumentation eher zu Verhärtungen des Verschwörungswahns. Ihr Tipp: beruhigen und zeigen, dass man selbst keine Angst verspürt. „Menschen orientieren sich an Menschen, die ihnen selbst guttun“, sagt die gelernte Pädagogin.
Denn die einfachen Antworten der Verschwörungstheorie geben einigen Halt und das Gefühl, eine komplexe Welt zu überblicken. „Es ist auch eine Aufwertung, damit man sich besser fühlt“, so Riede, die in diesem Schwarz-Weiß-Denken alles andere als ein neues Phänomen sieht: „Das ist etwas, das sich durch die Geschichte der Menschheit zieht.“
Seit 33 Jahren arbeitet sie bereits bei der Sektenhilfe und hat einige Wellen erlebt: In den 90er Jahren versprachen okkultistische Ringe eine spirituelle Erfahrung, zur Jahrtausendwende entstanden schließlich Szenarien eines Weltuntergangs, eines jüngsten Gottesgerichts. Parallel dazu boomte der Esoterikmarkt. 2014 wuchs die Zahl der Verschwörungsanhänger:innen nicht nur, ihre Ziele wurden auch zunehmend politischer und aggressiver. Jetzt ging es gegen das Establishment, gegen die „Lügenpresse“ oder die Schulmedizin. „Das sind Kräfte, die das Feuer anheizen“, warnt Riede.
Verbreitung findet die Hetze bekanntlich im Internet. Ikonen wie Ken Jebsen oder der vegane Koch Attila Hildmann befeuern mit ihren Auftritten noch die Angst und Verunsicherung. Hilfe und Halt finden Betroffene und ihre Angehörigen bei der Sekten-Info NRW.
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