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Anja Liedtke

Von Minenfeldern in die Ruhrwiesen

26. März 2024

Anja Liedtke wendet sich dem Nature Writing zu – Literaturporträt 04/24

Eine junge Frau sitzt auf den Stufen eines New Yorker Wohnhauses, hadert mit ihrer eigenen Unentschlossenheit und Ziellosigkeit – und macht die Bekanntschaft eines älteren Psychologen, der ihr bei der Suche nach sich selbst hilft. Eine junge Frau campt in den Schweizer Bergen und trifft dort auf David Bowie, dessen Butler sie wird. Anja Liedtkes Romane erzählen von Wendepunkten, vom Suchen und Finden, von Identitäten, Doppelgängern – und untergründig immer wieder vom schwierigen Vermächtnis, das der Holocaust selbst den Nach-Täter-Generationen hinterlassen hat. Doch nach fünf Romanen (darunter ein Jugendbuch) kehrt die Bochumer Autorin diesem Literaturgenre – und den darin handelnden Menschen – nun den Rücken zu. Stattdessen widmet sie sich der kleinen Form – und der Natur. In poetisch aufgeladener Kurzprosa und im lyrischen Format fokussiert sie ihren Blick auf Szenen, die dem flüchtigen Betrachter entgehen. Sie malt mit Worten schillernde Landschaftspanoramen ebenso wie detailverliebte Miniaturen. Man merkt Liedtkes Texten eine ungeheure Naturverbundenheit, den scheinbar staunend-naiven Blick aufs Detail ebenso an wie eine große Belesenheit in Bezug auf Tier- und Pflanzenwelt. Hat sie dieses Auge für und Interesse an Natur schon immer gehabt? „Das Auge und Interesse haben meine Eltern unmerklich geschult, indem sie selbst auf Spaziergängen in der Siedlung bis hin zu Wanderungen in den Alpen auf Tiere und Pflanzen geschaut und gezeigt haben“, erinnert sich Liedtke. Schon in ihren Romanen kam Landschaften eine besondere Rolle zu: „Landschaftsschilderungen bildeten später den Hintergrund meiner Romanhandlungen, insbesondere in ‚Stern über Europa‘, einer Utopie über die sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung unserer Gesellschaft. Einige breiteten sich zu eigenständigen Reiseerzählungen aus.“ Daraus sollte mehr werden: „Schließlich suchte ich eine Literaturform, in der die Natur ihr Eigenleben entfalten kann wie die Libelle ihre Flügel nach dem Schlüpfen. Mit der Gattung ‚Nature Writing‘ habe ich diesen Traum verwirklicht. Aber die Natur bietet eine solche Vielfalt, die lässt sich nicht schildern. Da waren zu viele Dimensionen, zu viele Ebenen, zu viele Sinneswahrnehmungen, um sie linear aufzuschreiben. Was tun? Ich konnte nicht nur auswählen, ich musste auch verknappen und reduzieren, Essenzen suchen und finden. Auf diesem Weg bin ich zu Prosagedichten und Gedichten gekommen. Ich habe immer gesagt, ich schreibe niemals Lyrik. Die Vielfalt der Natur hat das notwendig gemacht. Nicht alles lässt sich durch Prosa erzählen.“

Die Libelle beim Schlüpfen

Anja Liedtke steht mit ihrer Hinwendung zur Natur keineswegs alleine da. Die in Großbritannien und den USA wurzelnde Tradition des Nature Writing erlebt seit ein paar Jahren einen Boom im deutschsprachigen Raum. Wie erklärt sich Liedtke diesen Trend, auf den sie nicht aufspringt, sondern der sie und ihr Schreiben nun einholt? „Das liegt bestimmt an der Sehnsucht nach der Natur und an ihrem Schwinden. Auch, wenn uns das nicht bewusst wird, wir brauchen die Natur. Schließlich sind wir ein Produkt ihrer Jahrmillionen langen Evolution, jeder einzelne ist aus ihr hervorgegangen, und wir sind optimal an sie angepasst. Um gesund zu sein und uns wohlzufühlen, benötigen wir frisches Wasser und reine Luft, schadstofffreie Nahrung, einen Rückzugsort und Ruhe vom sozialen Miteinander, genug Platz, uns zu bewegen und die Begegnung mit Pflanzen und Tieren. Wir brauchen sie, um uns sowohl abzugrenzen als auch zu identifizieren und auf diese Weise unser Menschsein zu definieren. Sind die wichtigsten Faktoren nicht gegeben, reagieren wir genauso wie Tiere und Pflanzen: Zu dichtes Aufeinanderleben oder Hitze, der nicht zu entfliehen ist, führt zu Stress, und der lässt uns anfällig für Krankheiten und Aggressionen werden. Umgekehrt suchen wir die Natur auf, um uns zu erholen. Nature Writing zu lesen ist ein Ausdruck der Sehnsucht nach der Natur, und zugleich erfahren wir mehr über sie – und über uns. Gehen wir nach der Lektüre raus in den Wald und an den Fluss, sind wir aufmerksamer und achtsamer, entdecken mehr als vorher, weil wir sensibilisiert sind. Das macht Freude.“

Die Welt unter den Füßen

Seit 2017 wird jährlich der mittlerweile mit 10.000 Euro beachtlich dotierte Deutsche Preis für Nature Writing vergeben. Unter den bisherigen Preisträger:innen sind mit Marion Poschmann und Ulrike Draesner Autorinnen, die ebenso wie Liedtke neben den Augen für die Natur auch einen Blick für politische Zusammenhänge haben und in ihren Romanen gesellschaftliche Relevanz mit stilistischer Brillanz verbinden. Während Poschmann und Draesner zwischen den Genres mäandern, hat Liedtke sich stringent von den Romanen ab und zum Nature Writing hin gewandt. Angesichts der politischen Situation, des nicht nur aufkeimenden, sondern blühenden Antisemitismus unserer Zeit stellt sich die Frage, ob die Autorin die Entscheidung, den politischen Roman hinter sich zu lassen, bereut. „In die Natur zu gehen, den Kopf freiblasen zu lassen, durch den Rhythmus des Gehens raus aus dem unguten Kreisel der Gedanken, Ängste, Ärgernisse und Sorgen heraus zu laufen, rechts, links und oben ins Weite zu schauen, hilft, kreativ statt destruktiv zu werden, Lösungen oder zumindest Ausdruck für Konflikte und Wut zu finden, und manches relativiert sich“, beschreibt Liedtke den Effekt, den die Besinnung auf die Natur für sie hat, und ergänzt: „Wenn ich dann noch unverhofft eine tierische Begegnung habe, merke ich auf einmal, wie sich mein Mund zum Lächeln hochzieht, obwohl er gerade noch verbissen war oder herunterhing. Das ist keine Weltflucht, die Welt liegt ja unter meinen Füßen, ich fühle sie deutlich, ich habe Boden unter den Füßen. Die Erde dehnt sich vor mir aus, es tut gut, sie zu riechen, ihre Stimmen zu hören, sie anzufassen und tief einzuatmen. Dann wird mir bewusst, auch das Gute, Angenehme, Schöne zählt, und je länger ich in dieser Welt wandere, desto besser geht es mir. Ausgeklammert wird dabei gar nichts, das Negative gibt es ebenfalls, aber eben nur auch und nicht nur.“ Und sie stellt klar: „Ich bin nicht weg von den gesellschaftlichen Themen. ‚Blumenwiesen und Minenfelder‘, die israelischen Reiseerzählungen, sind weiterhin aktuell und erzählen anhand von persönlichen Einzelschicksalen und Gesprächen, wie es zur heutigen Situation kommen konnte, was die historischen Hintergründe sind. Ich habe einigen Veranstaltern Lesungen angeboten, zu meiner Überraschung trauen sich manche nicht, sie durchzuführen. Mit meiner Kollegin Safeta Obhodjas aus der GEDOK Wuppertal wird aber noch was daraus.“ Dass Lesungen aus Sorge um Proteste nicht zustande kommen, ist eine Besorgnis erregende Entwicklung. Mehr denn je braucht es Autor:innen, die ihre Stimmen erheben – und als Ausgleich zu den tagtäglich sich überschlagenden Nachrichten auch jene, die uns die Augen für die kleinen Wunder und die Schönheit vor unserer Haustür öffnen.

Natur ist Menschenrecht

Fast zeitgleich zu Liedtkes neuem Buch „Der Himmel ist altes Silber“ ist mit „Von Hängen fallen“ ein gemeinsames Projekt mit dem in Kyoto lebenden Achim Stegmüller auf den Markt gekommen. Wie ist es zu dieser „Meraner Sammlung“ gekommen? „Im August 2022 hatte ich ein Stipendium in Meran, die Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte. Ich schrieb unter dem Motto: Natur ist ein Menschenrecht. Rund um Meran beobachtete, belauschte und befühlte ich die Natur, um sie zu genießen, zu bewahren und das Erlebte in poetischer Sprache weiterzugeben. Der deutsch-italienischsprachige Ost-West-Verein lud mich zu einer Lesung ein, zu der ich wiederum meinen mir bis dahin unbekannten Mitstipendiaten in der Wohnung über mir, Achim Stegmüller, einlud. Der konnte aber nicht, und so verabredeten wir uns auf einen Kaffee in der Bar um die Ecke. Beim zweiten Treffen nahmen wir unsere Laptops mit und lasen uns die in Meran entstehenden Texte vor. Das setzen wir fort, auch noch, als wir schon wieder zuhause waren, ich in Bochum, er in Kyoto. Wir fanden, die Texte passten wunderbar zusammen, und so beschlossen wir, uns um eine gemeinsame Publikation zu bemühen. Wir fragten die Bochumer Bildende Künstlerin Sabine Hey, ob sie Bilder zu dem Band zeichnen wollte, und sie überraschte uns mit wunderschönen Tier-, Pflanzen- und Szenenzeichnungen. Gedichte, Prosa und Zeichnungen erschienen im Achter Verlag. Das Buch haben wir zum ersten Mal auf dem Literaturfestival in Weinheim und auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt. Sabine Hey las Achim Stegmüllers Gedichte, weil der nicht extra aus Japan anreisen konnte. Wir hoffen aber auf eine gemeinsame Lesung im nächsten Jahr.“

Liedtke reist gerne und beschreibt ihre Beobachtungen. Gleichzeitig aber nimmt sie auch das vermeintlich bekannte Grün direkt vor der Haustür unter die Lupe. An welchen Texten hat sie mehr Spaß? „Früher hätte ich gesagt: an den Reisebeschreibungen. Das hat sich geändert. Die Beobachtungen vor der Haustür sind intensiver, genauer geworden, ich achte auf mehr, nehme mehr Details wahr. Jetzt ist es von Vorteil, bei jeder Gelegenheit vor die Tür zu treten und nachzuschauen, nachzuhören, ein Kraut in den Mund zu stecken und noch einmal die Nase in eine Blume versenken zu können. Das Reisen geht zu schnell. Wenn ich mich wirklich auf die Natur einlassen will, brauche ich Zeit und muss mich langsam bewegen. Der Spaß an den Texten, die zuhause entstehen, wächst, weil sie detailreicher und intensiver werden.“

Anja Liedtke: Der Himmel ist altes Silber | Dittrich Verlag | 187 S. | 22 € | Anja Liedtke, Achim Stegmüller, Sabine Hey (Ill.): Von Hängen fallen – Meraner Sammlung | Achter Verlag | 112 S. | 18 €

Frank Schorneck

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