Die jüngste Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux bezeichnet sich als „Ethnologin ihrer selbst“. Mit ihren Romanen, in denen sie nicht selten in der dritten Person ihre eigene Vergangenheit Revue passieren lässt – prägnant und schonungslos offen – gelangte sie zu Weltruhm. Mit „Der junge Mann“ erscheint nun ein schmaler Band, in dem sie auf eine Liebesbeziehung zurückblickt, die sie mit Mitte fünfzig mit einem dreißig Jahre jüngeren Studenten führte.
Formal mag der Text zwar nüchtern wirken, allerdings scheinen einen von jeder Seite nicht nur eine nostalgische Wehmut, sondern auch ein durch viele Erfahrungen errungenes Selbstbewusstsein anzuhauchen. In Sätzen wie „Ich befand mich in einer Machtposition, und ich setzte meine Macht als Waffe ein.“ reflektiert die Ich-Erzählerin die stürmische Liaison mit dem deutlich jüngeren Partner. Sie steht über den wertenden Blicken anderer Menschen, die ihre unkonventionelle Liebesbeziehung in Frage stellen und verunsichernd wirken könnten. Die Leidenschaft, mit der er sie liebt, scheint es wert, die teils offen zur Schau gestellte Missbilligung über sich ergehen zu lassen und wieder in die Rolle des „skandalösen Mädchens“ von einst hineingepresst zu werden. Nur dieses Mal ohne die berüchtigte Scham.
Darüber hinaus geht es auch um Klassenfragen und gesellschaftliche Zwänge, die Annie Ernaux schon immer mit subtilem Determinismus mitverhandelt. Der besagte junge Mann repräsentiert für sie eine „verkörperte Vergangenheit“, einen „Träger der Erinnerungen“. Sie fühlt sich ihm nicht nur altersbedingt überlegen, sondern auch, weil sie dem prekären Milieu, dem er zur Zeit des Kennenlernens angehört, bereits durch harte Arbeit und die Veröffentlichung ihrer ersten Bücher entronnen ist.
Diese neueste literarische Miniatur, in der Annie Ernaux mit ihrer kennzeichnenden Schärfe und gnadenlosen Ehrlichkeit vorgeht, wurde eigentlich schon zwischen 1998 und 2000 verfasst. Die beschriebene Liebschaft diente offenbar als Katalysator für die Auseinandersetzung mit der traumatischen Abtreibung, die sie in ihrem Roman „Das Ereignis“ verarbeitet. Auch in „Der junge Mann“ verwebt sie kongenial auf engstem Raum Persönliches mit Politischem.
Annie Ernaux: Der junge Mann | Suhrkamp Verlag | 48 Seiten | 15 €
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