Samson, der seine Kraft in den Haaren trägt wie die indischen Schönheiten aus Bollywood, ist kein Tristan und kein Romeo, und Dalila ist keine Julia, aber rachsüchtig wie Isolde. Samson, kein Banker sondern Krieger, erliegt seines Fleisches Schwäche und ruiniert damit das ganze Volk und schließlich Feind und Freund. „Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu; und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei.“ Heinrich Heine aus Düsseldorf fällte diese Diagnose vor 200 Jahren über missglückte Liebesbeziehungen. Wesentlich älter sind die Konflikte der Hebräer mit den Philistern, die sich jetzt in Tilman Knabes Inszenierung von Camille Saint-Saens Oper „Samson et Dalila“ mühelos in das aktuelle Geschehen im Gaza-Streifen ummünzen ließen.
Will ein Regisseur einem alten Stoff kräftig unter die Röcke blasen, so muss er Theaterblut einkaufen: Aus alten Schlachtengemälden tropft kein Blut. Knabe bestellte kräftig rote Suppe und garnierte sie mit brutalen Szenen, gespielt vom Volk – bestehend aus Chor und Statisterie – und seinen Helden – den Solisten. Wie choices im letzten Monat berichtete, meldeten sich zunächst zahlreiche Choristen krank. Dann folgten drei Hauptakteure: Alle klagten über „körperliche und seelische Erkrankung“ ob der Gewaltszenen, die sie spielen oder erleben mussten.
Mit einwöchiger Verspätung kam das Werk auf die Bühne. Es wurde einer der spannendsten und ehrlichsten Opernabende an der vom Pech verfolgten Kölner Oper. Im „Samson“ funktionierte die zeitliche Transformation perfekt und zwingend. Brutalität und Hemmungslosigkeit der Gewalt in ideologisch gesteuerten Konflikten wurde spürbar ängstigend gespielt – akribisch inszeniert und dargestellt in Balletten des Horrors. So erlebten die Premierengäste eine fulminante und bis ins Finale hochexplosive Aufführung.
Dass ein solches Ergebnis, das vielleicht in der „angeblichen“ Zurücknahme und Kürzung der fraglichen Gewaltszenen genau das fesselnde und nicht abstoßende Maß erhielt, nur durch bittere Proben und einen starken Glauben an die Regie erreicht werden kann, ist leider wahr. Dass ein Erfolg, der sich bereits am Premierenabend durch die vermehrten Bravi gegen die stimmkräftigen Buhrufer deutlich abzeichnete, für solchen Extraeinsatz entlohnt, ist eine andere Wahrheit. Selten kann die Statisterie so punkten wie in diesem Massengewühle. Noch seltener ist der Chor musikalisch so angenehm gefordert wie in Saint-Saens Oper. Selten passt so schön-schwülstige Opernmusik so makaber auf so große grausame Bilder.
Die sonst übliche und völlig uneitle Solidarität in einem Ensemble wurde zur Premiere positiv auf den Prüfstand gerufen: Dalila-Darstellerin Ursula Hesse von den Steinen war stumm, eine Influenza hatte sie im Griff. Die russische Kollegin Irina Mishura wurde eingeflogen und sang bezaubernd vom Bühnenrand die Partie – die zwei Diven schritten als doppelte Dalila Hand in Hand zum Schlussapplaus. So wurde aus dem vielstimmig beschworenen Theaterkrieg ein außergewöhnlicher Theatersieg.
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