Für Regisseure und Bühnenbildner ist sie der Ausdruck alles Provinziellen und Piefigen: die Mehrzweckhalle. Zwischen Basketballkörben und Sprossenwänden spielt sich nicht nur das sportliche, sondern auch das gesellschaftliche Leben der Provinzler ab. Unweigerlich steigt dem Zuschauer die Erinnerung an muffige Umkleidekabinen in die Nase. Dass das durchaus noch steigerungsfähig ist, beweist das tschechische Regieduo Skutr mit seinem Bühnenbildner Martin Chocholoušek. Sie gewähren im Hintergrund sogar noch großzügigen Einblick in die Herrentoilette, die alsbald von trinkfreudigen Provinzlern lebhaft frequentiert wird.
So war das wohl zu erwarten von den jungen Regisseuren Martin Kukučka und Lukáš Trpišovský, die sich als Skutr in ihrer Heimat mit experimentierfreudigem Crossover-Musiktheater einen Namen gemacht haben. Doch so frech und provokativ wie diese Ausgangskonstellation es erwarten lässt, gerät ihnen der böhmische Bauernschwank von Karel Sabina, 1865 als Libretto geschrieben für Bedřich Smetanas komische Oper „Die verkaufte Braut“, dann doch nicht. In Richtung Gegenwart transformieren sie den leichtfüßigen Dreiakter, der als „tschechische Nationaloper“ gilt, nur vordergründig. Vielleicht weil richtige Provinzler der Mode immer um Jahrzehnte hinterherhinken, sehen sie ein bisschen so aus, wie aus den 60er Jahren entsprungen. Die Kostüme von Simona Rybáková sind über die drei Akten hinweg in ständiger Auflösung begriffen. Zeichen des Niedergangs einer Gesellschaft, an der sich der Rest der Welt vorbei und weiter gedreht hat? Einen allzu tiefen Sinn braucht man sicher nicht darin zu suchen. Die Regie sucht ihr Heil in der clownesken Überzeichnung, nicht in politischem Subtext. Das macht aus der operettenhaften Handlung nicht mehr, als sie ist, bleibt in der Figurenzeichnung allerdings auch recht oberflächlich.
So bekommt die Musik immerhin das Gewicht, das ihr zusteht.
Dass das Stück überhaupt auf dem Spielplan steht, dürfte zu einem Gutteil Generalmusikdirektor Tomáš Netopil zu verdanken sein, der das tschechische Repertoire pflegt und zu Recht als überaus kompetenter Interpret gilt. Mit Smetanas Oper gelingt ihm die perfekte Balance zwischen Temperament und Schwärmerei sowie dramatischer Ernsthaftigkeit. Den Essener Philharmonikern verlangt er dabei einiges ab – unter anderem geradezu halsbrecherische Tempi, die das gut eingespielte Orchester makellos bewältigt. Unter den Sängern ragt neben den starken Protagonisten, der jugendlich-dramatischen Ensemblesopranistin Jessica Muirhead als verkaufte Braut Marie und dem tschechischen Gasttenor Richard Samek als ihr Schwarm Hans besonders der exzellent singende Chor (Leitung: Jens Bingert) überaus positiv hervor.
„Die verkaufte Braut“ | R: SKUTR | So 14.1. 16.30 Uhr, Do 18.1. 19.30 Uhr | Aalto-Theater, Essen | www.theater-essen.de/oper
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