Es ist nur ein Klecks Senf. Einmal nicht hingeschaut: zack, platsch, alles vollgesaut. Und das auch noch vor dem Zelt der Festival-Nachbarn. Böse Blicke und prompt die SpießerInnen-Aufforderung aus SpießerInnen-Mündern: „Wir hätten jetzt gerne, dass Ihr zurück geht!“ Für das Alter Ego in Marock Bierlejs quasi-Lesebühnen-Prolog kommt das einem Verstoß aus dem Paradies gleich: „Wir wurden vertrieben!“ War es im ersten Buch Moses noch das Wort Gottes, so ist es hier des Spießers Schuld, dass dem unbekümmerten, paradiesischen Metal-Festival-Treiben ein Ende bereitet wird: Vertreibung von Dosenbierstechen-Diakonat, Hygiene-Askese und schweißspritzender Headbanging-Liturgie? Marock Bierlej verzichtet auf Buße: „Der Metal, der will never die!“
Aber er ist natürlich nicht der einzige, der sich bei dieser neuen Bochumer Lesebühne „Wir müssen rEDEN“ dem Sündenfall widersetzt. Hinter der neuen Lese-Reihe im Café Eden stecken neben Bierlej, „Die Relativität der Gleichzeitigkeit“-Schöpfer Tim Szlafmyca (beide sind zudem mit der Literatur-Initiative „Treibgut“ umtriebig) und die Poetry-Slammerin Felicitas Friedrich.
Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies
Raus aus dem Paradies, rein in die Scheiß-Spießigkeits-Spirale? Auch Miedya Mahmod, die bei der dritten Ausgabe der Lesebühne zu Gast ist, erteilt einer trostlosen Konformität eine Absage. „Vom Bräunen und Beige“, so der Titel des Beitrags, den die Poetry Slammerin im gemütlichen und gut besuchten Café Eden vorträgt. Es geht um beige Dress-Codes alter Menschen, Sonnenstudios, Großraumdiscos. Oder um Pärchenabende, Elternabende, Tatortabende. Exklusiven kulturindustriellen Muff: Tim Bendzko zum Träumen, Mario Barth zum Lachen. „Mittelmaß, das reimt sich auf Reihenhaus“, raunt Mahmods lyrisches Ich über diese Durchschnitts-Tristesse.
Dieser zu entfliehen, darum geht es auch in dem Beitrag von Felicitas Friedrich. „Mit Dir will ich ausbrechen aus den gewohnten Strukturen“, heißt es da. Eine Elegie über Abenteuerlust und Fernweh, in der sich ihr lyrisches Ich die Vertreibung aus der beengenden Zivilisation selbst auferlegt („Ich tausche Elektroherd gegen Westernpferd“) und in einer Wendung schließlich rassistisch-provinzielle Dunstkreise beklagt.
„Wir müssen reden“, so der Hashtag Gottes in der Genesis – und so auch das Motto dieser unterhaltsamen Anti-Wasserglas-Lesung. Fun first! Das heißt entweder: Einfach drauflos schreiben. So wie in den galaktischen Gaga-Akkumulationen von Tim Szlafmycas Alien- und Superhelden-Storys an diesem Abend. Oder: Einfach von der Leber darauf los reden. So wie in der Tête-à-Tête-Nonsens-Ko-Produktion von Szlafmycas mit Miedya Mahmod. Das Prinzip: Gegenseitig Fragen stellen und in den Antworten den Begriff, der gezogen wurde, möglichst pointiert unterbringen. Mögliche Konversationsergebnisse: Ein Date im Sandwichtoaster, Rebellion gegen den „Bierschiss auf dieser Welt“ (das würde Miedya Mahmod erledigen, hätte sie die Macht eines Jedi-Ritters) oder die Erzeugung von Bill Murray (Szlafmycas Zukunftspläne, wäre er eine Frau – und könnte in die Vergangenheit reisen). Gepflegter Nonsens. „Das grenzt an Dada“, erkennt auch Miedya Mahmod. Aber Spaß und Spektakel mit Literatur zu verbinden, das war bekanntlich schon das Programm von Dada-Mitbegründer Hugo Ball. Ähnlich abgewandelt auch an diesem Lese-Slam-Abend: Lautes Lachen im Publikum, schnörkellose Sündenfälle auf der Bühne. Ja, die SpießerInnen und der Sinn und erst recht das Paradies – die können uns alle mal! True! Pommesgabel! Amen!
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