Fristlose Kündigung, das Konto leer, die Freundin abgehauen: Der Protagonist ist ein arbeitsloser Werbetexter in einer Zwangslage. Wie er sich daraus befreien kann, geht ihm eher zufällig auf: mithilfe künstlicher Intelligenz.
Wo üblicherweise Widmungen stehen oder Inspirierendes zitiert wird, ist dem Roman ein Zitat von Chat GPT vorangestellt. Denn die KI wird vom „bedrohlichen Zauberwort“ der eigenen Überflüssigkeit zur Komplizin: Mit immer wieder verfeinerten Anweisungen lässt der Werbetexter sie Absatz um Absatz eine Geschichte schreiben, die er als Buch verkaufen will. Lewinsky hat das selbst ausprobiert und diese Absätze eingeflochten. „Die KI hat sie geschrieben, aber ich habe sie erfunden“, redet sich der Protagonist ein.
Mit Witz und Esprit beschreibt Lewinsky zunächst das Arbeitsethos des Werbetexters, der Müsli anpreist, obwohl er es nicht ausstehen kann. Das ist ab der ersten Seite äußerst unterhaltsam, auch wenn die zerbrochene Beziehung des Protagonisten behandelt wird. Mit Anspielungen auf vom Journalisten Claas Relotius erfundene Reportagen gegenüber KI-generierten „Tatsachen“, verhandelt Lewinsky, was Autorschaft eigentlich noch bedeutet. Er stellt Mensch und Maschine auch stilistisch gegenüber: Manche Sätze enden im Nichts – solche lesbaren Gedankensprünge finden sich nicht in den KI-Absätzen.
Der Spannungsbogen zeichnet den Weg vom spielerischen Ausprobieren bis zur Abhängigkeit nach. Der zynische Protagonist befreit sich aus der Unterwürfigkeit, die seine privaten und beruflichen Beziehungen kennzeichneten, und erlangt als Autor Macht über seine Erzählung. Doch nur bedingt aus eigener Kraft: „Die künstliche Intelligenz hätte es ebenso gut gemacht. / Besser.“, reflektiert er sein Schaffen. Und: „Meine eigene Intelligenz lügt fast so gut wie die künstliche.“ Bald befindet er sich im permanenten Dialog mit der KI. Alles läuft gut, bis das als wahre Geschichte vermarktete Buch zum Bestseller wird. Wie jetzt mit immer drängenderen Fragen nach den vermeintlichen Tatsachen umgehen? Er trickst die der KI einprogrammierte Ethik aus und fragt das Programm um Rat. Das liest sich immer noch sehr unterhaltsam, doch zunehmend schwingen ernstere Töne mit.
Charles Lewinsky: Täuschend echt | Deutsche Originalausgabe | Diogenes | 352 S. | 26 Euro
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ein letztes Mal Urlaub
Simone Buchholz in der Düsseldorfer Zentralbibliothek
Ab auf die Insel
Doppellesung am Essener KWI
Unsichtbare Krankheiten
„Gibt es Pflaster für die Seele?“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 01/25
Gespräch über die Liebe
„In einem Zug“ von Daniel Glattauer – Textwelten 01/25
Vorlesestunde mit Onkel Max
Max Goldt in den Kammerspielen Bochum – Literatur 01/25
Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24
Eine wahre Liebesgeschichte
Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ – Textwelten 12/24
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Literatur in Höchstform
25. LesArt.Festival in Dortmund – Festival 11/24
Aufwändige Abschlüsse
Comics, die spannend Geschichten zu Ende bringen – ComicKultur 02/25
Massenhaft Meisterschaft
Neue Comics von alten Hasen – ComicKultur 01/25
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
Zwischen Utopie und Ökoterrorismus
Tagung „Klimafiktionen“ in Bochum – Literatur 12/24
Das Über-Du
Auftakt von Literaturdistrikt mit Dietmar Dath und Wolfgang M. Schmitt – 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24