Die Engländer haben natürlich Recht. Der Geburtstag des Herrn Jesus Christus ist in unseren Breiten untrennbar verbunden mit der Einverleibung von Unmengen kalorienreicher Nahrung. Erst werden die Gänse mit Hafer gestopft, dann die Menschen mit den gestopften Gänsen. So zumindest ist es Brauch, seitdem es seit gut 60 Jahren wieder ausreichend Lebensmittel zu kaufen gibt. Aber neben diesem und auch gegen diesen bauchfüllenden Brauch mehren sich konsumkritische Stimmen. Die Lametta-Lamentierer erbost besonders der Zeitpunkt, an dem das weihevoll-närrische Treiben freigegeben wird. Dominosteine und Spekulatius als Fingerfood bei sommerlichen Grillpartys? Bäh! Auch wird inzwischen gern gemeckert gegen die Zwänge, ein dreizehntes Monatsgehalt ohne weitere Abzüge sofort nach Auszahlung in die dafür vorgesehenen Einzelhandelsgeschäfte zu tragen. Abhängig von der jeweiligen Weltanschauung werden mit einem Doppel-Bäh versehen: der Erwerb und das Verschenken von Pelzmänteln, Kriegsspielzeug oder Sarrazin-Sachbüchern. Schon in einem ganz frühen Lied von Reinhard Mey wurde der originale Weihnachtsmann in der Spielzeugabteilung eines Kaufhauses erschossen. Die Aufregung über die Doppelmoral des Christenrummels ist also nicht neu.
Was aber ist mit der vorletzten Woche des Jahres sonst noch anzufangen außer das Fest der Liebe zu zelebrieren? Die Gesellschaft neigt seit Jahren dazu, alles und jeden zu befeiern. Gott scheint tatsächlich ein DJ zu sein. Egal, ob bei internationalen Fußballmeisterschaften, bei europäischen Schlagerwettbewerben oder bei royalen Hochzeiten, die Welt verkommt zunehmend zur Partymeile. Dabei gibt es bezüglich der jahreszeitlich gebundenen Anlässe durchaus neben vielen Gewinnern auch einige Verlierer. Der 1. Mai als Tag der Arbeit dümpelt als Pflichttermin der Gewerkschaftsbewegung dahin. Selbst die Autonomen in Berlin können ihrem randalierenden Treiben nicht mehr so recht etwas abgewinnen. Die Bedeutung von Pfingsten können höchstens noch Theologen fehlerfrei erklären, ansonsten gilt das Fest als Eröffnung der Freibadsaison. Westlicher Muttertag und östlicher Frauentag haben einen großen Teil ihrer Strahlkraft an den Valentinstag abgeben müssen. Sankt Martin reitet immer öfter wieder allein durch Schnee und Wind, wird von schniefenden und hustenden Kindern und Eltern immer öfter im Schneeregen stehen gelassen. Stattdessen gruseln sich selbst Kindergartenkinder beim irisch-amerikanischen Kürbisfest. Abgehackte Finger aus Schweinemett machen sich als Partysnack an Halloween besser als Mandarinen und Nüsse beim Adventsbasar. Wie lange kann sich also Weihnachten noch halten?
Wie können sich bekennende Atheisten durch die stille Nacht retten?
Lange. Denn Weihnachten bedient ein Gefühl, das uns gerade dann, wenn die Nacht am tiefsten und längsten ist, ganz wichtig wird. Das Gefühl heißt Geborgenheit. Gegen Nieselregen und Schneematsch hilft die Illusion einer heilen Welt. Die genauen Inhalte des Festes sind dabei eher nebensächlich. So verwundert es gar nicht, dass zwischen Duisburg und Dortmund in manch muslimisch geprägtem Haushalt ein Weihnachtsbaum steht. Den Fundamentalisten auf islamischer und christlicher Seite kann dabei beschwichtigend versichert werden, dass der Brauch des Baummordes mitnichten christliche Wurzeln hat. Das Zündeln in dunkler Jahreszeit praktizierten schon die alten Germanen. Und das Fest mit Porzellanengelchen, Krippe, Adventskranz und Nadelbaum ist knapp 150 Jahre alt. Zuvor war Weihnachten wichtig wie heutzutage Allerheiligen oder Buß- und Bettag. Vor der Inthronisierung des Weihnachtsfestes als wichtigstes Datum im Kalender galten den Christen Karfreitag und Ostern als entscheidendste Tage im Jahr. Natürlich freuen sich die Pfarrer inzwischen auch, dass am 24. Dezember ihre Häuser pickepackevoll sind. Lieber hätten sie ein bisschen mehr Besuch übers Jahr verteilt.
Die Sorge der Popen ist das eine. Wie aber können sich bekennende Atheisten durch die stille Nacht retten? Griesgrämig in der Ecke zu sitzen mag nur einen begrenzten Zeitraum lang Spaß bereiten. Besser entgeht der Weihnachtsfest-Hasser dem Trubel mit Humor. Tatsächlich feiert das Kabarett in der Adventszeit Hochkonjunktur. Bereits Ende der 70er spielte die damals noch sehr anarchische Band „Erste allgemeine Verunsicherung“ im Jazzclub domicil in Dortmund ein böses Krippenspiel. Ein langmähniger Hippie trat mit dem Vers auf: „Guten Tag, ich bin Josef, ich hab’ ein Problem. Mein Weib, das ist schwanger, und ich weiß nicht, von wem!“ Die Kritik am Fest der Feste fällt inzwischen aber etwas differenzierter aus. Die Kabarettistin Tina Teubner bringt es auf ihrer aktuell erschienenen CD „Stille Nacht bis es kracht“ auf den Nenner: „Ich könnte weinen und muss nur lachen. Was soll man sonst an Weihnachten machen.“ Vielleicht wäre es wirklich an der Zeit, das Fest umzuwidmen und das Heilende im Heiligen Abend zu suchen. Wenn wir alle – statt betulich Harmonie zu erzwingen und dabei schwelende innerfamiliäre Konflikte zu provozieren – hemmungslos über uns selbst lachen würden, könnten die freien Tage tatsächlich noch Sinn machen. Das Schönste an Weihnachten mag die After-Gans-Party sein.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Der reine Wahnsinn
Habe gehört, dass am dritten Adventswochenende im Oberhausener Centro 200.000 Leute waren. Das ist der pure Wahnsinn, es versuchen immer Leute sich die Seele frei zu kaufen. Pfui....
Unter der Tanne wird gejodelt
Spätsommerliche Voradventszeit mit Schokolade als Sonnenschutz – Thema 12/12 O du fröhliche
Das etwas andere Krippenspiel
Dortmunds evangelische Pauluskirche ist bekannt für skandalträchtige Veranstaltungen – Thema 12/12 O du fröhliche
„Ich freue mich schon Mitte August auf Weihnachten“
Kai Magnus Sting über die Lustigkeit am Fest der Freude – Thema 12/12 O du fröhliche
„Der Nikolaus sollte kein Hampelmann sein“
Heinz-Jürgen Preuß über den wahren Nikolaus und gefälschte Versionen – Thema 12/12 O du fröhliche
Werben fürs Sterben
Teil 1: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Es sind bloß Spiele
Teil 2: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Europäische Verheißung
Teil 1: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Demokratischer Bettvorleger
Teil 2: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 1: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf
Friede den Ozeanen
Teil 2: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Stimmen des Untergangs
Teil 3: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Der andere Grusel
Teil 1: Leitartikel – Von der rätselhaften Faszination an True Crime
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 2: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen
Maßgeschneiderte Hilfe
Teil 3: Leitartikel – Gegen häusliche Gewalt braucht es mehr als politische Programme
Wildern oder auswildern
Teil 1: Leitartikel – Der Mensch und das Wildtier
Die Masse macht’s nicht mehr
Teil 2: Leitartikel – Tierhaltung zwischen Interessen und Idealen
Sehr alte Freunde
Teil 3: Leitartikel – Warum der Hund zum Menschen gehört
Von leisen Küssen zu lauten Fehltritten
Teil 1: Leitartikel – Offene Beziehungen: Freiheit oder Flucht vor der Monogamie?
Durch dick und dünn
Teil 2: Leitartikel – Warum zum guten Leben gute Freunde gehören
Pippis Leserinnen
Teil 3: Leitartikel – Zum Gerangel um moderne Lebensgemeinschaften
Verfassungsbruch im Steuer-Eldorado
Teil 1: Leitartikel – Die Reichsten tragen hierzulande besonders wenig zum Gemeinwohl bei
Sinnvolle Zeiten
Teil 2: Leitartikel – Wie Arbeit das Leben bereichern kann
Über irrelevante Systemrelevante
Teil 3: Leitartikel – Wie Politik und Gesellschaft der Gerechtigkeitsfrage ausweichen