Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
21 22 23 24 25 26 27
28 29 30 1 2 3 4

12.599 Beiträge zu
3.824 Filmen im Forum

Autor Clemens Bruno Gatzmaga im Literaturhaus
Foto: Benjamin Trilling

Neoliberale Sekten

27. Juli 2022

Autor Clemens Bruno Gatzmaga in Dortmund – Literatur 07/22

Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek erwähnt an verschiedenen Stellen das Beispiel, in dem der autoritäre Vater seinen Sohn dazu zwingt, zum Besuch der kranken Großmutter zu kommen. Antiautoritäre Eltern bevorzugten dagegen, ihren Kindern einzureden, dass sich die Oma sehr über einen Besuch freuen würde und wie großartig es wäre, wenn sie doch mitkämen.

Žižeks Denkfigur überschneidet sich mit dem Umgangston in der neoliberalen Agenturwelt, in der sich Clemens Bruno Gatzmagas Protagonist Jacob bewegt. Vermeintlich frei von Zwang und selbstbestimmt. Denn als ihn eines Tages der CEO – „der wie so oft übergangslos von flauschig sanft zu rasiermesserscharf wechselte“ – auf einen große Projektchance anspricht, hätte Jacob am liebsten abgesagt. Schließlich saß er ohnehin bereits bis in den Abendstunden am Schreibtisch, was er auch inszeniert: Bei Instagram veröffentlicht er ein Foto von sich und einem Pizzakarton, inklusive Kommentar: „last man standing“. Jacob sagt dem CEO zu.

Neue Arbeitscodes

Es sind die Formeln einer Selbstverwirklichung durch Arbeit, einer Tätigkeit ohne Zwang und eigenem Zeitmanagement, von denen Clemens Bruno Gatzmagas „Jacob träumt nicht mehr“ erzählt. Der gebürtige Düsseldorfer war selbst einige Zeit in einer Agentur beschäftigt. Im Literaturhaus Dortmund las er daher nicht nur aus seinem schmalen Debütroman, sondern gab auch einen Einblick in jene Freiheitsversprechen.

„Diese Agenturen sind die Speerspitze der New-Work-Bewegung“, sagt Gatzmaga. Damit meint er die Werte, die in smarten Großraumbüros hochgehalten werden: familiärer Umgangston, Selbstidentifizierung mit der Arbeit und Genuss an der Tätigkeit. Oft münde dieses Betriebsklima in eine vermeintliche Work-Life-Balance, die zu Ungunsten der Lohnabhängigen aus den Fugen geraten sei – und weit verbreitet, betont Gatzmaga: „Es gibt diesen Campus-Gedanken wie bei Thyssen, wo es Yoga-Angebote oder Schlafzimmer gibt.“

Verkorkst und abgeschottet

Und wer auf so einem Campus arbeitet, muss die Codes beherzigen: „Es gibt eine Sprache der Empathie“, erzählt Gatzmaga. Und die gelte, falls etwa Projekte scheiterten: „Man wird nicht gefeuert, aber man muss eine Schuld-und-Sühne-Sprache finden.“ Um das zu bewerkstelligen, belegt sein Protagonist Achtsamkeitstrainings oder lässt vom „Fitnesstrainer für Emotionen“ die „emotionale Standortbestimmung“ überprüfen. So erscheint die Agenturwelt in dem Roman als eine Mischung von verkorkster Familie und abgeschotteter Sekte.

Gatzmaga betont ebenso den eigenen Agentur-Jargon: „Die Sprache spielt eine große Rolle, vor allem die Anglizismen“, erklärt der Schriftsteller. „Es ist ein geschlossenes System.“ Zu den wichtigen Begriffen zählt etwa der „Pitch“, ein Smart-Banking-Programm. Genau mit einem solchen großen Auftrag einer Bank kommt eben der Geschäftsführer auf Jacob zu. Denn er wisse ja, „dass wir schon lange bei den Financial Services aufrüsten wollen. Da muss mehr Power in die Sales Pipe“, so der CEO „Ich wünsche mir da dein Commitment.“ Was als zwangslose und demokratische Beschäftigung suggeriert wird, führt Gatzmagas Protagonisten im Laufe des Romans schnurstracks in den Burnout.

Benjamin Trilling

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Drop – Tödliches Date

Lesen Sie dazu auch:

Über Weltschmerz sprechen
„Alles, was wir tragen können“ von Helen Docherty – Vorlesung 04/25

Ein wunderbarer Sound
Natalia Ginzburgs Roman „Alle unsere Gestern“ – Textwelten 04/25

„Die großen Stiftungen scheinen es nicht zu kapieren“
Gerd Herholz über sein Buch „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ – Interview 04/25

Verlustschmerz verstehen
„Als der Wald erwachte“ von Emma Karinsdotter und Martin Widmark – Vorlesung 03/25

Cool – cooler – Aal
„Egal, sagt Aal“ von Julia Regett – Vorlesung 03/25

Aus dem belagerten Sarajevo
„Nachtgäste“ von Nenad Veličković – Literatur 03/25

Der legendäre Anruf
Ismail Kadares Recherche über Stalin und Boris Pasternak – Textwelten 03/25

Internationales ABC
„A wie Biene“ von Ellen Heck – Vorlesung 02/25

Zwei Freunde
„Am Ende der Welt“ von Anna Desnitskaya – Vorlesung 02/25

„Afrika ist mehr als Hunger und Krieg“
Autor und Influencer Stève Hiobi über sein Buch „All about Africa“ – Interview 02/25

Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25

Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25

Literatur.

HINWEIS