Ein ganz normaler, verregneter Tag in der Dortmunder Shoppingmeile. Hektisches Treiben, volle Einkaufstüten. Aus dem Off erklingen Bombenexplosionen und Raketeneinschläge. In großer Schrift wird eingeblendet: „Es ist dieselbe Zeit“. Nur assoziativ und bruchstückhaft nähert sich der Film „Das verlorene Paradies“ den Zusammenhängen von Flucht, Krieg und Alltag im fremden Land an.
Entstanden ist das Projekt unter der Leitung der Dokumentarfilmerin Ayse Kalmaz. In Kooperation mit dem Schauspielhaus Dortmund haben die jungen Geflüchteten Safi, Hasan, Mohannad, Khalo, Mohammad, Alla und Ibrahi ihren ersten Film gedreht. Damit waren sie auch schon an Schulen, Institutionen und sind demnächst auch auf Filmfestivals zu Gast. „Mit dem Film haben wir auf jeden Fall eine Kommunikation angeregt, die wir sonst nicht erreicht hätten“, freut sich Kalmaz. Im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus stellten die jungen Filmemacher ihr Erfolgsprojekt auch im Dietrich-Keuning-Haus vor und diskutierten mit dem Publikum.
In welcher Form das Ganze auf die Leinwand gebracht werden sollte, war am Anfang alles andere als klar: „Wir hatten gar keine Idee, was wir filmen wollten“, erinnert sich Mohannad Alchltonh, der zusammen mit Bruder Mohammad, Safi Al-Assil und Regisseurin Ayse Kalmaz das gemeinsame Filmprojekt vorstellte. „Wir wollten aber etwas machen, womit wir die Leute erreichen können.“
Zunächst wollten die Jugendlichen das Projekt in Form eines filmischen Tagebuchs über ihre Flucht nach Dortmund auf die Leinwand bringen. Doch diese Idee wurde fallen gelassen. „Wir haben nicht mit einem Drehbuch gearbeitet, sondern das erst nach dem Drehen zusammengeschnitten.“ Stattdessen tasten sich die jungen Künstler an eine adäquate Form heran, lassen die Kamera laufen, wenn sie durch Dortmund schlendern oder sich unterhalten – über rassistische Vorurteile, westliche Heuchelei oder Träume über die verlassene Heimat. Filmische Flüchtlingsgespräche, auch mit direkter Ansage in die Kamera: „Wir sind gekommen, weil wir in Frieden leben wollen.“
Auch Alltagserfahrungen werden szenisch nachgestellt: Die Schwierigkeiten, von Maklern eine Wohnung vermittelt zu bekommen oder der stumpfe Bürokraten-Rassismus der Behörden. „Ich hatte keine Probleme mit den Leuten hier. Aber man selbst fühlt sich hier nicht willkommen“, erzählt Safi Al-Assil.
Ihr gemeinsamer Streifen gerät nicht nur zu einer Auseinandersetzung damit, sondern auch zu einer Reflexion über die medialen Möglichkeiten, ihre Erfahrungen und die Katastrophe aus Krieg, Flucht und Elend darzustellen: Wie können wir das filmisch zeigen? Welcher Film lohnt sich noch? Kann ein Film unsere Wirklichkeit überhaupt verändern? „Das verlorene Paradies“ stellt diese ästhetischen Fragen, aber zeigt auch die bekannten, schrecklichen Bilder aus Syrien: zerstörte Städte, Bombenteppiche, Angstschreie. Alltäglicher Ausnahmezustand. Der so gefährlichen Abstumpfung davor halten die jungen Regisseure mit ihrem Filmexperiment etwas dagegen: mutig und aufrüttelnd. Am Ende, nach dem Abspann scheint dann doch noch die Sonne. Aufstehen im verlassenen Land, im Frieden. Alles nur ein Traum. Tränen und Applaus im vollen Dietrich-Keuning-Haus.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Schund und Vergnügen
„Guilty Christmas Pleasures: Weihnachtsfilme“ im Filmstudio Glückauf Essen – Foyer 12/24
Hagener Bühne für den Filmnachwuchs
„Eat My Shorts“ in der Stadthalle Hagen – Foyer 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
Mehr als „Malen-nach-Zahlen-Feminismus“
„Ellbogen“ im Kölner Filmpalast – Foyer 04/24
Sieben Spitzenprämien-Gewinner
Kinoprogrammpreis-Verleihung in der Wolkenburg – Foyer 11/23
Verfilmung eines Bestsellerromans
„Die Mittagsfrau“ im Casablanca Bochum – Foyer 10/23
Mysteriöses auf schottischem Landsitz
„Der Pfau“ im Cinedom – Foyer 03/23
Alle Farben der Welt
37. Teddy-Award-Verleihung bei der 73. Berlinale – Foyer 02/23
Endlich wieder gemeinsam feiern
Sommer-Branchentreff 2022 in der Wolkenburg – Foyer 06/22
Industrie im Wandel
„We Are All Detroit“ im Filmhaus – Foyer 05/22
Das Publikum entführen
„Enfant terrible“ in der Lichtburg Essen – Foyer 10/20
Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Kölner Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24
Lichtspiele mit Charme
Eröffnung der Ausstellung „Glückauf – Film ab!“ im Ruhr-Museum – Foyer 07/24
Der Tod, der uns verbindet
NRW-Premiere von Eva Trobischs „Ivo“ – Foyer 06/24
Bären für NRW-Filme?
21. NRW-Empfang im Rahmen der 74. Berlinale – Foyer 02/24
Drei NRW-Filme im Berlinale-Wettbewerb
20. NRW-Empfang im Rahmen der 73. Berlinale – Foyer 02/23