Was macht die Kriegsgefangenschaft mit einem Soldaten? Wie verändert sich ein Leben, wenn man als Gefangener das Land des „Feindes“ kennenlernt? – Inspiriert durch die Erzählungen seines Großonkels hat sich der 1982 in Hamburg geborene Hannes Köhler auf eine Recherchereise in die USA begeben, Gedenkstätten besucht und Zeitzeugen befragt. Das Ergebnis ist ein vielschichtiger Roman, der die geschichtlichen Ereignisse mit einer Familiengeschichte verknüpft, in der die Sprachlosigkeit zwischen Generationen allzu offenbar wird. Eine seiner Hauptfiguren ist der sich von einem Zeitvertrag zum nächsten hangelnde Aushilfslehrer Martin, der seinem Großvater Franz den Wunsch erfüllt, gemeinsam mit ihm in die USA zu reisen und Stationen seiner Kriegsgefangenschaft zu besuchen. Für den alten, zunächst so verschlossen wirkenden Mann werden Erinnerungen wach. Hannes Köhler schildert eindringlich, wie der größte Feind der Gefangenen nicht „der Amerikaner“ war, sondern die strammen Nazis, die auch im Gefangenenlager das Regiment an sich zu reißen versuchten. So tut sich auch in den USA eine Frontlinie auf, während daheim in Essen-Katernberg die letzten Reserven für den Volkssturm zusammengerufen werden.
Was der Roman dabei nicht auslässt ist die Tatsache, dass die Amerikaner nach der Vorgabe „Peace and Quiet“ in den Lagern mehr als nur ein Auge zugedrückt haben. „Sie haben sich deshalb erst einmal über die gute Organisation in vielen Lagern gefreut und gar nicht begriffen, dass das in vielen Fällen auch mit Druck und Repressalien zu tun hatte“, erläutert Köhler.
„Eine gewisse Blauäugigkeit spielt da auch eine Rolle. Die Amerikaner hatten, zumindest bis kurz vor Ende des Krieges, ein viel schlechteres Frage- und Filtersystem, um z.B. SS-Leute aus der Masse der Wehrmachtssoldaten rauszufischen. Es gab zu wenig muttersprachliche Übersetzer, zu wenig ausgebildete Leute, die wussten, wie man wonach Fragen musste. Das hat dann ja auch im Lager in Hearne, Texas, dazu geführt, dass es zu diesen ‚Straßenschlachten‘ zwischen Nazis und Mitgliedern des Strafbatallions kam. Die Amerikaner sind davon völlig überrascht worden, haben zunächst gar nicht begriffen, warum Mitglieder ein- und derselben Armee so voller Hass aufeinander losgehen. Erst als es immer mehr solcher Vorfälle gab, auch in anderen Lagern, sind dann die sogenannten ‚Anti-Nazi-Camps‘ entstanden. Was dann eben dazu führte, dass man einerseits sehr demokratisch dominierte Lager hatte und andererseits solche, in denen die Nazis klar das sagen hatten. Wer irgendwo in der Mitte stand oder nicht ganz früh und eindeutig klar machte, dass er gegen die Nazis war, konnte in solchen Lagern dann große Probleme bekommen, siehe Franz und Paul, der ja auf einer historischen Figur beruht.“
Der Historiker in der Familie
Köhler ist Historiker, die Fakten hinter seinem Roman sind penibel recherchiert. Wie leicht sich der innere Historiker und der Autor beim Schreiben durchaus in die Queren kommen, schildert Köhler sehr anschaulich: „Der Historiker in mir kann das Fundament legen, auf der das Ganze beruht. Ich habe natürlich auch gemerkt, wenn man sich einmal so in Quellen verliert, dann musste der Autor dem Historiker manchmal sagen: ‚So, das ist jetzt auch in Ordnung, wenn ich Dinge hin und herschiebe, Sachen verändere.‘ Aber der Historiker kommt dann immer und klopft an: ‚Doch, sei lieber sicher! Überprüf das nochmal! Schreib nochmal eine E-Mail an die freundliche Frau in dem Archiv in Utah und frag, ob das wirklich Doppelstockbetten waren oder nicht.‘ Was natürlich am Ende für den Text eigentlich völlig irrelevant ist."
Doch auch wenn zahlreiche Quellen für geschichtliche Korrektheit bürgen, die Wurzeln der Geschichte liegen in Köhlers eigener Familie – und führen ins Ruhrgebiet: „Meine Mutter stammt aus Essen, meine Tante lebt immer noch dort. Und vor allem stammt auch mein Großvater aus Essen. Sein Bruder ist tatsächlich in den USA als Kriegsgefangener gewesen, in Kalifornien, und durch die Geschichten meines Großvaters und später meiner Mutter und Tante über seine Zeit dort bin ich überhaupt erst auf das Thema der POW in den USA gestoßen. Auch die Namen des Protagonisten und seines Bruders, Franz und Josef, sind tatsächlich die Namen meines Großvaters und Großonkels, allerdings vertauscht.“ Der Opa diente Köhler dann als Vorlage für die Figur des wegen einer Verletzung daheim gebliebenen Bruders.
Ein mögliches Weiterleben
Im Roman offenbart sich nach und nach, dass Franz in seiner Gefangenschaft innige Freundschaften geschlossen hat, dass sich ihm die Möglichkeit bot, in den Staaten ein neues Leben zu beginnen. „Ein mögliches Leben“, wie es auch in der Familie des Autors hätte gelebt werden können: „Auch mein Großonkel hätte, wie der Protagonist Franz, in die USA zurückkehren können, entschied sich aber seiner Frau zuliebe dagegen. Und darüber haben sich die beiden Brüder so zerstritten, dass es zum dauerhaften Bruch kam. Mein Großonkel ist dann Bergmann geblieben und sehr jung an Steinstaublunge gestorben und mein Großvater hat immer gesagt, dass es ein riesiger Fehler seines Bruders war, dass er damals nicht ausgewandert ist. Er hat das nie verstehen können.“
Ein wiederkehrendes Motiv des Romans, die Geschichte eines abgetrennten Ringfingers, ist allerdings nicht auf einem familiären Mythos begründet. Diese Inspiration fand Köhler in den Archiven des Military Museum Sacramento. Aber Franz‘ Drang, von neuen Umgebungen Steine nicht einfach zu sammeln, sondern sie im Mund zu erschmecken, das ist doch sicherlich eine Eigenart des realen Vorbildes? „Nein, für das Steineschmecken gab es kein historisches Vorbild“, stellt Köhler klar, „das ist reine Erfindung, etwas, über das Franz für mich, in all seiner Überforderung als junger Mann, der aus seiner Welt gerissen wird, versucht auf seine Art und Weise Kontakt aufzunehmen zu den neuen Orten, sie sich habhaft zu machen.“
Eis auf der Rü
Als Kind hat Köhler die Erzählungen seines Opas in sich aufgesogen. Auch seine Mutter und seine Tante sind bei den Besuchen im Revier ins Erzählen gekommen. „Ich persönlich verbinde deshalb viele schöne Kindheitserinnerungen mit der Stadt“, schwärmt der Autor und ergänzt: „nicht nur wegen aber auch wegen ‚mörchens Eis‘ auf der Rüttenscheider Straße. Meinte Tante hat lange Zeit dort direkt um die Ecke gewohnt. Mein Opa lebte wiederum bis zu seinem Tod im Laurentiusweg in Huttrop. Sein Bruder tatsächlich in Katernberg, wenn die Adressen im Roman auch erfundene sind.“
In seinem Erwachsenenleben verschlägt es Köhler nur noch selten nach Essen. „Essen ist für mich vor allem ein Kindheitsort, aber gerade deshalb freue ich mich schon sehr auf die Lesung!“ Im August stellt Hannes Köhler seinen Roman in der Buchhandlung Proust vor.
Hannes Köhler: Ein mögliches Leben | Ullstein | 352 Seiten | 22 €
Lesung: Mi 29.8. 20 Uhr | Buchhandlung Proust, Essen
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