Reinhard Goebel geht es gut. Ihm geht es so wie aktuell den Grünen. Der einstige Geiger und Gründer der „Musica antiqua Köln“, ein Pionier der Alte Musik-Bewegung, bringt es auf den Punkt: „Während man in Gründungszeiten von 'Musica antiqua' schnöde auf das Gekratze herabgeschaut hat, arbeiten sich heute große Sinfonieorchester an dieses Repertoire heran. Da bin ich sehr gefragt, das geht bis zu Orchestern in Australien.“ Winde drehen, Ansichten wechseln, Wahrheit wankt durch die Zeit.
Nun habe ich vor zwei Monaten die „neue“ DVD mit der „Kunst der Fuge“ von „Musica antiqua“ besprochen: posthum eingespielt, noch posthumer erschienen, aufgenommen in moderner Architektur, bereits mehrfach auf Arte und ähnlichen Sendern zu bestaunen gewesen. Jetzt habe ich mit Reinhard Goebel über dieses ausgefallene Projekt geredet – und staune immer noch, weil so vieles, was der Konsument aufnimmt, gar nicht so ist. Hatte ich eine Wehmut beim Ensemble-Gründer gemutmaßt, so war dies eine leichte Fehlinterpretation. Goebel: „Ich bin damals schon so weit weg gewesen, dass mich das gar nicht interessiert hat. Ich stand ja in meinen letzten Jahren, als ich wieder erste Geige spielen musste, unter Droge. Ich habe ein sehr starkes Parkinson-Medikament eingenommen, um überhaupt spielen zu können, und das bedeutete für mich, dass meine Kollegen mich morgens operativ aus meinem Bett entfernen und auf die Bühne tragen mussten, ich habe dann einfach gespielt.“ Dass der Geiger schon in seiner aktiven Zeit erkrankt war, das wussten viele Musikfreunde. Aber dass jemand außerhalb der R&B-Szene zugedröhnt zum Dienst kommt – krankheitshalber, versteht sich – das erscheint zumindest ungewöhnlich. Dass die Bilder nicht lügen, wenn Lederhosenjodler bis zu den Waden in Bergbächen waten und dabei elektrische Instrumente bedienen, das glaubt heute hoffentlich nur noch die Omi. Aber dass in der Höchstkultur 76 Minuten heile Welt durch geschickten Schnitt und Aufnahmetechnik ermogelt wird, das verblüfft und verdient ein technisch-ästhetisches Sonderlob.
Über die Qualität oder die Attraktivität der DVD sagt dies nichts aus, da verliert auch Goebel kein böses Wort. Er könnte auch gar nicht. Goebel: „Ich habe diese DVD noch niemals gesehen, und ich werde sie mir wahrscheinlich auch nie angucken, weil dann augenblicklich alles wieder hochkommt. Das kann ich mir ersparen.“
Fragen, die sich jetzt auftun: Nimmt der Zustand des Interpreten irgendeinen Einfluss auf das Ergebnis einer DVD? Können wir noch irgendetwas glauben, was wir sehen und hören? Weis der Kritiker wirklich, worüber er schreibt und spricht? Oder: Müsste der freischaffende Künstler nicht so abgesichert sein, dass er bei schwerer Krankheit zu Hause bleiben darf? Eine Frage beantwortet Goebel selbst:
Muss der Interpret und Ensemble-Chef überhaupt Feuer und Flamme sein für ein solches Projekt? Goebel, der heute weltreisende Maestro am Dirigentenpult, die ehrliche Haut aus Siegen, antwortet spontan, direkt aus dem Bauch: „Für mich is dat nix!“
Unter neuen Vorzeichen: „Musica Antiqua Köln“ | DVD – Johann Sebastian Bach: Die Kunst der Fuge 0016758BC (Bach-Compendium)
Die Eindruck unter alten Vorzeichen unter: www.choices.de/glas-stahl-und-beton
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