trailer: Herr Prof. Dr. Wiesing, im August diesen Jahres haben Sie und drei weitere medizinische Wissenschaftler einen Gesetzentwurf zur Neuregelung der Sterbehilfe in Deutschland vorgelegt. Warum wurde dieser Entwurf nicht von Politikern formuliert?
Prof. Dr. Urban Wiesing: Unser Motiv war es, die Erkenntnisse, die es zum ärztlich assistierten Suizid gibt, in den Gesetzesentwurf mit einfließen zu lassen. Wir haben gemerkt, dass in der politischen Auseinandersetzung Argumente ausgetauscht werden, die einfach nicht haltbar sind. Insofern waren wir darum bemüht, einen sachlichen, auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basierenden Vorschlag zu unterbreiten. Denn eine Regelung, die die Erkenntnisse der Wissenschaft nicht zur Kenntnis nimmt, wird wohl keine gute sein.
In der Diskussion um das Thema Sterbehilfe wird der Begriff „Würde“ sehr unterschiedlich gebraucht. Gehört zur Würde nicht auch der Begriff der Selbstbestimmung?
Interessanterweise sind sich in puncto würdevolles Sterben alle einig. Das Problem ist nur, dass uns die Würde nicht sagt, was das bedeutet. Es gibt im Wesentlichen zwei Interpretationen. Die eine sagt, dass zur Menschenwürde vor allem die Selbstbestimmung gehört. Eine andere Interpretation sagt, dass die Menschenwürde vor allem dadurch geprägt ist, dass man die Bedingungen der Möglichkeit für Würde, nämlich das biologische Leben, und die Bedingung der Möglichkeit für Verantwortung und Moralität nicht zerstören, also keinen Suizid begehen darf. Wir können aber nicht sagen welche Interpretation richtig ist. Die Aufgabe besteht nun darin, eine Regelung zu finden, die unterschiedliche Vorstellungen von Menschenwürde akzeptiert.
Unter welchen Umständen sollte einem Menschen in Deutschland die Erfüllung des Wunsches nach ärztlich assistiertem Suizid erlaubt sein?
Es muss bei einem Patienten eine schwere Erkrankung vorliegen, die in absehbarer Zeit zum Tode führt. Zwei Ärzte müssen die Freiverantwortlichkeit des Willens überprüft haben. Es muss klar sein, dass der Wunsch des Patienten nicht durch mangelnde Behandlung zustande kam. Ein verpflichtendes Aufklärungsgespräch für das Leben, in dem der Patient umfassend über schmerztherapeutische oder palliativmedizinische Angebote aufgeklärt wird, sollte folgen. Und zwischen dem Aufklärungsgespräch und der Verschreibung des tödlichen Medikamentes sollte eine Bedenkzeit festgelegt werden.
Sie sprachen gerade die Palliativmedizin an. Es gibt Stimmen die behaupten, dass durch eine Verbesserung der Palliativmedizin die Diskussion um die Sterbehilfe wegfallen würde.
Die Politiker die das behaupten, und zudem haben sich auch einige Palliativmediziner dem angeschlossen, kennen die wissenschaftlichen Studien nicht. Es ist so, dass die Palliativmedizin sehr vieles kann, aber sie kann halt nicht alles. Es gibt gute Untersuchungen die sagen, dass es auch bei bester Palliativmedizin immer wieder Wünsche von Menschen nach Beihilfe zum Suizid gibt. Ich halte es für töricht, wie im Augenblick die Funktion der Palliativmedizin überhöht wird, und ich halte es für ganz falsch, in der jetzigen Diskussion Palliativmedizin und Sterbehilfe gegeneinander auszuspielen.
Inwieweit kollidiert das ärztliche Prinzip Leben zu schützen mit der Sterbehilfe?
Es stimmt, der Arzt ist grundsätzlich dazu verpflichtet, für das Leben zu arbeiten. Nun müssen wir aber sehen, dass wir hier eine Ausnahmesituation haben, in der Patienten ein weiteres Leben trotz aller medizinischer Hilfe als unerträglich erachten. Hier muss man klären, ob Ärzten eine Ausnahme erlaubt ist. Derzeit gibt es von den 17 Ärztekammern vier verschiedene Regelungen. In einigen Ärztekammern, unter anderem Bayern und Baden Württemberg, ist der ärztlich assistierte Suizid ja längst erlaubt.
Kann die Möglichkeit eines ärztlich assistierten Suizids suizidpräventiv sein?
Dazu gibt es internationale Studien. Zum Beispiel in den Vereinigten Staaten in Oregon. Von 100 Patienten, die nach ärztlich assistiertem Suizid gefragt haben, haben 60 nach dem ersten Gespräch von dem Wunsch abgelassen. Nur 40 haben, nachdem die vorgeschriebenen Formalia durchgeführt wurden, das tödliche Medikament bekommen. Davon haben es letztlich nur 20 Patienten genommen. Was bieten wir den Menschen in Deutschland an? Wir bieten ihnen Ärzte, die verunsichert und nicht dafür ausgebildet sind. Wir bieten Sterbehilfevereine, die Wucher betreiben, 7000 Euro für Soforthilfe ist Wucher. Wir haben keine Kontrollmechanismen, keinen zweiten Blick. Und es gibt keine ärztliche Überprüfung, ob der Wunsch nicht vielleicht in einer Depression, einer schlechten Schmerztherapie oder Palliativmedizin begründet liegt. Unter diesem Aspekt glaube ich, dass eine gute Regelung des ärztlich assistierten Suizids in der Tat suizidpräventiv ist.
In Belgien darf der verurteilte Vergewaltiger und Mörder Frank van der Bleek assistierten Suizid vornehmen, aufgrund einer mangelnden Therapierbarkeit und zu hohem Leidensdruck. Schlägt dieses Beispiel komplett fehl?
Dieses Beispiel schlägt insofern komplett fehl, als der Grund für die Nichtbehandlung des Straftäters darin lag, dass die geeignete Klinik nicht in Belgien sondern in den Niederlanden ist. In Belgien konnte er nicht therapiert werden. In einer solchen Situation ist es doch völlig absurd davon zu sprechen, man möge hier ärztlich assistierten Suizid vornehmen. Da gibt es doch nur eine einzige vernünftige Antwort, nämlich, dass man dieses therapeutische Angebot in Belgien bereitstellt oder eben dem Patienten erlaubt, in die 80 Kilometer entfernte Klinik zu fahren. Wofür haben wir eigentlich die Europäische Union, wenn das nicht möglich ist? Die Belgier haben offenkundig kein vernünftiges System um ihre Leute zu behandeln.
Dabei glaubt man doch, Belgien und die Niederlande seien beim Thema ärztlich assistierter Suizid ganz weit vorne?
Nein, das stimmt nicht. Belgien und die Niederlande haben die Tötung auf Verlangen erlaubt. In diesen Ländern gibt es hierbei Steigerungszahlen. In den Niederlanden ist der ärztlich assistierte Suizid jedoch eine Rarität, weil immer die Tötung auf Verlangen genutzt wird. In den Ländern in denen es nur den ärztlich assistierten Suizid gibt, wie in Washington oder Oregon in den USA, oder eben in der Schweiz, haben wir keine oder nur sehr geringe Steigerungsraten. Der Grund ist, dass jeder Mensch eine natürliche Hemmschwelle hat sich selbst zu töten. In dem Augenblick, wo die Hemmschwelle nicht mehr vorhanden ist, weil eben die Tötung auf Verlangen erlaubt ist, haben wir deutliche Steigerungsraten, was ich für sehr bedenklich halte.
Die großen Kirchen haben sich zum Thema Sterbehilfe ebenfalls geäußert. Der Mensch darf aus der Sicht der Kirchen nicht über Beginn und Ende des Lebens bestimmen. Glauben Sie, dass die Gläubigen aufgrund der Aussagen der Kirche keinen ärztlich assistierten Suizid in Anspruch nehmen?
Die Gläubigen lassen sich zu einem großen Teil nicht mehr von den Aussagen ihrer Kirche beeinflussen. Wir haben es hier mit dem interessanten Fall zu tun, dass zwar eine eindeutige Stellungnahme der Verantwortlichen der Kirchen vorliegt, aber die Bürger sich keineswegs alle danach richten. Zudem gibt es viele christliche Theologen, die genau das Gegenteil von dem behaupten, was die Kirchenleitung sagt. Interessanterweise kann in diesem Falle das Christentum keine eindeutige Orientierung bieten. Hans Küng ist ein katholischer Theologe und kommt zu ganz anderen Ergebnissen als seine Kirchenleitung. Die Zahl der evangelischen Theologen, die ebenfalls zu ganz anderen Ergebnissen kommen, ist groß.
Würden Sie für sich persönlich denn ärztlich assistierten Suizid in Anspruch nehmen?
Ich glaube, ich sollte hier nicht von meiner eigenen Meinung ausgehen, denn die persönliche Meinung darf in der Debatte nicht ausschlaggebend sein. Für viele Abgeordnete kommt der ärztlich assistierte Suizid nicht infrage. Ein Gesetz darf sich nicht daraus speisen, was die Mehrheit der Abgeordneten für richtig erachtet. Es muss die Grenze der staatlichen Regulierung festlegen und nicht die Mehrheit der persönlichen Überzeugungen der Abgeordneten persönlich in ihrem eigenen Fall wiedergeben.
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