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Tobias Hayer
Foto: Kai Uwe Bohn / Universität Bremen Hochschulkommunikation

„Ich vermisse die Stimme der Betroffenen“

27. März 2025

Teil 1: Interview – Psychologe Tobias Hayer über Glücksspielsucht

trailer: Herr Hayer, unser Verstand sagt uns, dass beim Glücksspiel der Anbieter gewinnt. Warum lassen sich Menschen trotzdem hinreißen?

Tobias Hayer: Wir sind keine ausschließlich rational denkenden und handelnden Wesen. Und Sie können nur Geld gewinnen, wenn Sie am Spiel teilnehmen. Dann lässt uns manchmal unser Verstand im Stich. Wir laufen der Kontrollillusion nach, die Spielausgänge beim Glücksspiel beeinflussen zu können, also nur im richtigen Moment auf die richtige Taste beim Automaten zu drücken, unser Expertenwissen bei Sportwetten vermeintlich einfach und auf leichte Weise zu monetarisieren, das richtige Rubbellos zu greifen, all das, glauben wir, führt dazu, Gewinnwahrscheinlichkeiten maßgeblich zu erhöhen. Das ist allerdings ein Trugschluss. Wir haben es nicht in der Hand. 

Welche Symbolwirkung hat jemand wie Lotto-Millionär Chico?

Das ist das Prinzip des Modelllernens. Da ist ein Mann von der Straße, so will ich das mal ausdrücken. Mit ihm können Sie sich identifizieren, wenn der es schafft, wenn der beim Lotto große Gewinne einfahren kann, sogar mehrfach, ja, warum sollte das mir nicht auch gelingen? Wenn medial immer wieder darüber berichtet wird, wird das Ereignis für uns subjektiv gesehen wahrscheinlicher. Es ist schneller aus dem Gedächtnis abrufbar. Dann glauben wir eher, dass es auch uns treffen könnte. Wir nennen das Verfügbarkeits-Heuristik. Das ist letztendlich auch ein Urteilsfehler oder eine kognitive Verzerrung, der wir unterliegen.

Glücksspielern sieht man ihre Sucht nicht äußerlich an. Wird das Problem deswegen weniger ernst genommen?

Ja, die Angelsachsen beispielsweise bezeichnen die Glücksspielsucht auch als „hidden addiction“, als heimliche, verborgene Sucht. Glücksspielsüchtige haben keine Einstiche wie ein Junkie, keine Pupillenveränderung wie beim Cannabis-Konsumenten oder all die Symptome eines übermäßigen Alkoholkonsums. Das macht es Betroffenen leider so einfach, ihre Glücksspielsucht über Jahre, mitunter Jahrzehnte geheim zu halten, ein Doppelleben zu führen. Zu Alkoholikern sagt man in der Regel: „Hol‘ dir Hilfe“, zu Glücksspielern dagegen: „Hör doch einfach auf“. Da sehen Sie, dass die Glücksspielsucht gesellschaftlich noch nicht so sehr als Krankheit anerkannt wird.

Als die Neufassung des Glücksspielstaatsvertrags 2021 in Kraft trat, hieß es, man wolle „den natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen lenken“. Ist das nicht ungeheuer verharmlosend?

Absolut! Dieser Passus, dieser juristische Kniff ist mir schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Formal korrekt müsste es ja „natürlicher Glücksspieltrieb“ heißen. Ich habe Tiefenpsychologie studiert. Trieb ist eigentlich eine psychische Energie, etwas Normatives, etwas, was wir alle haben. Wenn ich mir jetzt die Zahlen der aktuellsten Bevölkerungsumfrage zum Glücksspielverhalten in Deutschland anschaue, dann ergibt sich, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung in den letzten zwölf Monaten an einem Glücksspiel teilgenommen hat, zwei Drittel nicht. Dann frage ich mich schon: Sind diese zwei Drittel krank? Wo ist denn der Trieb, von dem hier die Rede ist, hin? Sie verspüren offenbar so einen Glücksspieltrieb nicht! Daran sehen Sie schon, dass das letztendlich ein wissenschaftlich absolut nicht haltbarer Passus ist. Und natürlich verharmlost er.

Es gibt Menschen, die im Supermarkt bewusst mit Bargeld bezahlen, um besser mit dem Geld umzugehen. Gibt es ähnliche psychologische Unterschiede zwischen verschiedenen Glücksspielarten wie Automat, Roulette, Sportwetten-Büro oder Internet? 

Ganz grundsätzlich können Sie Glücksspielangebote hinsichtlich Ihrer Suchtpotenziale deutlich voneinander abgrenzen. Das kann zum Beispiel über eine Analyse der Veranstaltungsmerkmale erfolgen. Wie sieht das Game-Design einer spezifischen Glücksspielform aus? Und da haben wir eine Daumenregel. Grundsätzlich gilt: Wenn eine hohe Verfügbarkeit eines Glücksspielangebotes auf eine schnelle Spielgeschwindigkeit trifft, gehen wir von hohen Suchtgefahren aus: Wenn Sie an das Produkt leicht herankommen, es keine größeren Hürden gibt, dann ist es leicht verfügbar. Und wenn Sie dann Entscheidungen im Sekundentakt haben und binnen Sekunden wissen, ob Sie gewonnen oder verloren haben, dann besteht die Möglichkeit, dass Sie Ihren Gewinn sofort wieder reinvestieren. Weiterspielen. Wenn Sie verlieren, kommt sofort der Gedanke: Wie kriege ich meine Verluste wieder rein? Indem ich weiterspiele. Und deswegen sind kontinuierliche Spielabfolgen gefährlich. Die absorbieren wir viel schneller. Sie spielen sich quasi in Trance und es hat eine ganz andere Sogwirkung als zum Beispiel Lotto 6 aus 49 mit einem relativ lang gestreckten Spielablauf, mit zwei Ausspielungen am Mittwoch und am Samstag. Ich sage nicht, dass Lotto ungefährlich ist, aber weitaus weniger gefährlich als zum Beispiel Automatenspiele oder Online-Glücksspiele. Beim Online-Glücksspiel haben wir letztendlich drei Faktoren, die das Risiko noch mal erhöhen: Wir haben die höchstmöglichste Ausprägung von Verfügbarkeit. Sie können im Netz „Twenty Four Seven“ spielen: 24 Stunden, sieben Tage die Woche ohne Grenzen. Es gibt keine Schließzeiten und wenn wir ein mobilfähiges Endgerät haben, können sie quasi zu jeder Tageszeit an jedem Ort mit Internetzugang zocken. Hinzu kommt beim Online-Glücksspiel die fehlende soziale Kontrolle. Sie spielen anonym, können auch betrunken oder unter Drogeneinfluss zocken. Und schließlich ist da niemand, der theoretisch mal sagt „Nun, Frau Müller, Herr Meier, es ist gut, gehen Sie mal nach Hause …“. Also keine soziale Kontrolle. Drittens, ganz wichtig psychologisch gesehen ist der bargeldlose Zahlungsverkehr. Wenn Sie Ihre Kreditkarte als Bezahlmittel wählen oder ein Online-Bezahlsystem, dann können Sie das quasi im Sekundentakt mit wenigen Mausklicks belasten und das immer wieder. Sie verlieren viel schneller den Überblick über Ihre gesamten Einsätze und auch Verluste, als wenn Sie immer wieder Ihr Portemonnaie öffnen und die Geldscheine daraus entnehmen. Ist das Portemonnaie irgendwann leer, müssen Sie sich physisch zu einem Geldautomaten bewegen, haben also eine erzwungene Auszeit vom Glücksspiel. All das erfolgt im Internet in der Regel nicht. Und deswegen gehen wir auch ganz grundsätzlich davon aus, dass mit Online-Glücksspielen noch mal höhere Suchtgefahren verbunden sind als mit Offline-Glücksspielen.

Wir kennen diese Fotos auf Zigarettenschachteln. Wie sollten Bilder aussehen, die beim Glücksspiel ähnlich abschreckend wirken könnten? 

Zielführender wäre es, dass wir primär im Bereich der Verhältnisprävention ansetzen, also Verfügbarkeit beschränken, Werbung restriktiver gestalten bis hin zu Werbeverboten. Und auch bei diesen Veranstaltungsmerkmalen, die ich eben erwähnt habe, an diesen Stellschrauben drehen. Verhaltensprävention, also Aufklärung oder Sensibilsierung, gehört aber ebenfalls zu einem Präventionsmix an Maßnahmen dazu. Sensibilisierung etwa ist wichtig, man muss sie aber vernünftig umsetzen. Wir haben zum Beispiel auf den Spielautomaten immer solche Piktogramme gehabt. „Glücksspiel kann süchtig machen. Hier ist eine Nummer, da können Sie anrufen.“ Das verspricht wenig suchtpräventive Wirkung. Das wird ja kaum mehr wahrgenommen oder zur Kenntnis genommen, wenn Sie dauerhaft spielen. Was ich mir vorstellen könnte an Aufklärung, ist zum Beispiel beim Automatenspiel oder beim Online-Glücksspiel, dass in regelmäßigen Zeitabständen – sagen wir mal alle 20 Minuten – ein Fenster aufpoppt, interaktiv. Eine Präventionsbotschaft, die immer einen wechselnden Inhalt hat, präsentiert wird, die Sie auch aktiv wegklicken müssen, so dass Sie sie gelesen und wahrgenommen haben. Zudem kann zusätzlich rückgemeldet werden, wie lange Sie spielen und wie viel Geld Sie eingesetzt haben. Wie viel haben Sie gewonnen, wie viel haben Sie verloren? Ist das noch im Rahmen des Durchschnitts oder sprengen Sie da schon die Grenzen? Das halte ich für wesentlich effektiver als so kleine statische Informationen, die kaum zur Kenntnis genommen werden.

Der Fachverband Glücksspielsucht beschwerte sich bitterlich, er sei zur Neufassung des Glücksspielstaatsvertrags kaum gehört worden. Hat man Sie gefragt?

Ja, wir wurden natürlich im Anhörungsprozess beteiligt. Wir hatten alle die Möglichkeit, schriftliche und mündliche Stellungnahmen einzupflegen. Das ist auch erfolgt. Ob das sehr ausbalanciert war, das wage ich mal zu bezweifeln. In meiner Erinnerung waren Glücksspielanbieter oder aber Institutionen, die mit Glücksspielanbietern zusammenarbeiten, schon in der Überzahl. Was ich an diesem Punkt immer vermisst habe, ist die Stimme der Betroffenen. Wir haben in Deutschland etwa 1,4 Millionen glücksspielsüchtige Personen, so die Schätzungen des aktuellen Glücksspielsurveys. Das ist schon eine große Hausnummer. Ich habe mich immer darüber geärgert, dass diese Betroffenen nie selbst gefragt wurden, was ihnen denn gutgetan hätte, wo sie denn Defizite und Lücken im Spielerschutz sehen. Politik, vor allen Dingen auch Glücksspielanbieter, reden immer über Spielerschutz und effektive Präventionsmaßnahmen, also über die Spielenden, aber sehr, sehr selten mit ihnen. Und das sollte sich in Zukunft verbessern.

Interview: Daniela Prüter

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